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Spiegel Online


27. Februar 2012 Montag 9:50 PM GMT+1 


Warnschuss für Merkels Euro-Kurs


AUTOR: Annett Meiritz


RUBRIK: GRIECHENLAND-VOTUM IM BUNDESTAG


LÄNGE: 1285 Wörter



HIGHLIGHT: Der Bundestag hat neue Milliardenhilfen für Griechenland abgesegnet - aber Schwarz-Gelb verfehlte die Kanzlermehrheit. Die Abstimmung ist eine Warnung an Angela Merkel: Noch kann sie ihren Euro-Kurs durchsetzen, doch die Skepsis in den eigenen Reihen wächst.; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,817937,00.html


Berlin - Es soll unter anderem das Fieber gewesen sein, das den guten Eindruck der Geschlossenheit verhinderte: Mehrere Abgeordnete der Koalition lagen am Montag mit hoher Temperatur darnieder, heißt es aus der Unionsfraktion. Andere waren auf Reisen, insgesamt sechs Parlamentarier aus den schwarz-gelben Reihen fehlten beim Griechenland-Votum im Bundestag. Die habe man "wohl schlecht mit dem Notwagen einfahren" können, flapste der Parlamentarische Geschäftsführer Peter Altmaier (CDU).

Doch Altmaiers Scherze können nicht darüber hinwegtäuschen: In der Abstimmung über das zweite Rettungspaket für Athen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Schlappe erlitten. Zwar nahm eine klare Mehrheit im Bundestag den Antrag an. Doch 20 Abgeordnete von Union und FDP verweigerten die Zustimmung. Das Hilfspaket im Volumen von 130 Milliarden Euro verfehlte damit die symbolisch wichtige Kanzlermehrheit. 

Die Zahl der Abweichler lag diesmal deutlich höher als beim letzten Mal. Damals, im September 2011, war es um den erweiterten Euro-Rettungsfonds EFSF gegangen. Nur 15 Koalitionsabgeordnete stimmten seinerzeit mit Nein oder enthielten sich, die Kanzlermehrheit wurde knapp erreicht.

Diesmal sah es anders aus: Selbst wenn die sechs Abwesenden aus den Koalitionsfraktionen eingeflogen worden wären, wäre die Kanzlermehrheit nicht drin gewesen. Von der Kanzlermehrheit spricht man, wenn die Koalition die absolute Mehrheit - unabhängig von der Zahl der Anwesenden - erreicht. Genau diese Mehrheit wurde jedoch um genau sieben Stimmen verfehlt. Für die neuen Griechen-Milliarden votierten am Ende nur 304 Abgeordnete. Dabei haben Union und FDP zusammen 330 Sitze. Es fehlten also 26 Stimmen - 20 Verweigerer und sechs Abwesende.

All das klingt wie kleinliche Rechnerei, ist aber nicht unerheblich für Außen- und Innenwirkung der Regierungschefin. Es war seit Mai 2010 die siebte Abstimmung im Bundestag über Euro-Rettungshilfen. Noch nie zuvor hat Merkel bei einer wichtigen Euro-Abstimmung die Kanzlermehrheit verpasst.

Freilich wurde die Milliarden-Hilfe für Athen trotzdem bequem beschlossen. Union und FDP hätten das zweite Paket sogar ohne die reichlichen Ja-Stimmen der Opposition durchbringen können, mit ihrer eigenen Mehrheit. "Auf die sogenannte Kanzlermehrheit ist es bei dieser und bei den letzten Abstimmungen nie angekommen", betonte Altmaier am Montagabend.

Merkel konnte viele Kritiker nicht überzeugen

Es stimmt: Für die Griechenland-Hilfen selbst ist die Zahl der Abweichler unwichtig. Als Gradmesser für die Zustimmung zum Merkel-Kurs war die Abstimmung am Montag allerdings kein gutes Zeichen. Denn zu den bekannten Abweichlern wie den CDU-Politikern Klaus-Peter Willsch, Wolfgang Bosbach oder dem FDP-Euro-Rebell Frank Schäffler gesellten sich diesmal Euro-Kritiker hinzu, die im September noch mit Ja gestimmt hatten. Jene konnte Merkel mit ihrer Regierungserklärung vor der Abstimmung offensichtlich nicht überzeugen.

Der Abgeordnete Christian von Stetten (CDU) etwa begründete sein Nein damit, er sehe "die Schuldentragfähigkeit Griechenlands für nicht gegeben". Das Konzept des ersten Griechenland-Pakets sei von Athen "nicht eingehalten" worden, sagte er spiegel ONLINE.

Zudem schaffte es die Kanzlerin bei so manchem Euro-Hilfen-Skeptiker nicht, ihn in den vergangenen Wochen vom Gegenteil zu überzeugen: Der CSU-Parlamentarier Thomas Silberhorn, der schon im September mit Nein gestimmt hatte, erklärte, Griechenland würden nach wie vor "keine Anreize gegeben, die Sparauflagen einzuhalten". Solange sich das nicht ändere, könne man keine weiteren Milliardenhilfen absegnen.

Auch Euro-Rebellen traten ans Rednerpult

Die Abstimmungsschlappe ist ärgerlich für die Kanzlerin und ihre Getreuen. Am Nachmittag hatte Altmaier noch einmal auf einer Sondersitzung der Fraktion für den Merkel-Kurs geworben. Die Kanzlerin selbst demonstrierte im Plenum Gelassenheit. Während des Beitrags von Euro-Rebell Schäffler etwa wandelte sie für Plaudereien durch den Plenarsaal.

Auch ihre Regierungserklärung klang kaum wie eine Brandrede. Sie skizzierte die wichtigsten Etappen aus zwei Jahren Griechenland-Rettung und warnte vor den Risiken einer Ablehnung der Griechen-Hilfen: "Europa muss zeigen, dass es die richtigen Lehren aus der Krise zieht." Dazu wiederholte sie einen Dauerbrenner ihrer Redenschreiber: "Europa scheitert, wenn der Euro scheitert."

Die Chancen der Krisenstrategie würden angesichts der Risiken der Griechen-Rettung überwiegen, mahnte sie. "Niemand kann abschätzen, welche Folgen eine Pleite Griechenlands für die finanzielle Sicherheit Deutschlands, für die Euro-Zone, für die ganze Welt hätte." Sie dürfe keine "Abenteuer" eingehen, "das verbietet mein Amt".

Deutschland wolle den dauerhaften Euro-Rettungsmechanismus ESM schneller auf Touren bringen als bislang geplant, kündigte Merkel an. Die Bundesregierung sei bereit, noch in diesem Jahr elf Milliarden Euro als Bareinlage in den dauerhaften Krisenfonds ESM einzuzahlen und die zweite Hälfte des deutschen Beitrags bereits im nächsten Jahr. "Voraussetzung dafür ist, dass auch die anderen Mitgliedstaaten mitziehen", forderte sie.

Merkel räumte zugleich Ungewissheiten ein: "Eine hundertprozentige Erfolgsgarantie kann niemand geben." Garantie-Versprechen wären zum jetzigen Zeitpunkt auch pure Hybris. Experten streiten darüber, ob Griechenland mittelfristig überhaupt in der Lage sein wird, zu gesunden und wieder wettbewerbsfähig zu werden - oder ob der Deal "Frisches Geld gegen hartes Sparprogramm" womöglich platzen wird. Beobachter stellen in Frage, ob Athen angesichts der Neuwahlen im April tatsächlich bereit ist, Renten und Löhne radikal zu kürzen, wie von den Euro-Rettern gefordert.

Bis hierhin und nicht weiter?

Diese Ungewissheit nährt den Zweifel der Skeptiker - auch in den Reihen der Koalitionsfraktionen. Bringen immer neue Hilfspakete Griechenland wirklich aus der Krise? Nicht wenige Abgeordnete in den schwarz-gelben Reihen sind der Meinung, dass man kein weiteres Milliardenpaket durch den Bundestag bringen dürfe. Bis hierhin und nicht weiter, so sei etwa die überwiegende Haltung der CSU-Landesgruppe im Bundestag, hieß es von CSU-Abgeordneten am Montag. Ein "Griechenland III" werde man nicht mittragen. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte Ende vergangener Woche ein drittes Rettungspaket nach 2014 nicht mehr ausgeschlossen - und damit das Regierungslager weiter verunsichert.

Die wachsenden Zweifel, die zunehmende Zahl der Euro-Kritiker in den eigenen Reihen: Merkel wird es in ihrer Euro-Politik nach dieser Abstimmung mit Sicherheit nicht leichter haben. Zuvor war der Kanzlerin mit Innenminister Hans-Peter Friedrich gar ein Kabinettsmitglied in die Parade gefahren. Der CSU-Politiker hatte Griechenland im spiegel einen Austritt aus der Euro-Zone nahegelegt - kurz vor der Abstimmung am Montag allerdings ruderte er wieder zurück. In Wortmeldungen und Zwischenrufen der Opposition war Friedrichs Vorstoß während der Debatte immer wieder Thema. Merkel selbst ging darauf nicht ein.

Auf die Opposition konnte sie sich in Sachen Griechenland-Rettung immerhin verlassen. Der mögliche SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück zweifelte zwar in seiner Rede an den Erfolgsaussichten. "Der Bundestag wird sich in absehbarer Zeit mit einem dritten Griechenland-Paket befassen", prophezeite Steinbrück. Merkels Krisenmanagement folge dem Motto "zu spät, zu wenig und vor allem zu ungefähr".

Dennoch stimmte die SPD mehrheitlich für das zweite Rettungspaket. Auch die Grünen votierten mit Ja, trotz aller Kritik am "Zögern und Zaudern" der Kanzlerin in der Euro-Krise, wie es Fraktionschefin Renate Künast ausdrückte.

Noch funktioniert also der Euro-Kurs der Kanzlerin. Doch die Kritik wird lauter.

mit dpa und dapd


UPDATE: 28. Februar 2012


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


PUBLICATION-TYPE: Web-Publikation


ZEITUNGS-CODE: spox



Copyright 2012 Spiegel Online GmbH
Alle Rechte vorbehalten


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Der Spiegel


27. Februar 2012


Dschungel der Wunderheiler


AUTOR: Albrecht, Bernhard


RUBRIK: WISSENSCHAFT; KREBS; S. 114 Ausg. 9


LÄNGE: 3161 Wörter



HIGHLIGHT: Diagnose Brusttumor. Gibt es da eine Alternative zu OP und Chemotherapie? Eine Patientin aus Zürich wechselt, irregeleitet von falschen Versprechen, vier Jahre lang von einem Kurpfuscher zum anderen. Die Geschichte einer Odyssee.


An einem Montag vor dreieinhalb Jahren kroch Renate Mulofwa(*) das erste Mal zu Kreuze. "Ich schaffe es nicht mehr", sagte sie zur Gynäkologin Angela Kuck und entblößte ihre Brust. "So was Schlimmes haben Sie bestimmt noch nie gesehen!" Vor Scham brach sie in Tränen aus.

Drei Tage zuvor war der sie behandelnde Naturarzt vor Schreck zurückgesprungen, als ihm das Blut im Strahl entgegenschoss. Die Geschwulst war groß wie eine Grapefruit und beulte sich hervor, als wollte sie aus der Brust springen. Der Tumor hatte die Haut zerfressen; was von ihr übriggeblieben war, bezeichnet Mulofwa als "Gletscherlandschaft".

Renate Mulofwa war damals 47 und wusste seit knapp zwei Jahren, dass sie an Brustkrebs litt. Sie hatte sich nie operieren lassen wollen. Eine Frau, die immer zur Mammografie gegangen war, seit sie im Alter von 28 das erste Mal eine Verhärtung ertastet hatte. Eine Frau, die ihre drei Kinder impfen und ihnen Antibiotika verschreiben ließ, wenn sie krank waren. Sie hatte nie etwas gegen die Schulmedizin gehabt. 

Bis zu jenem Anruf im Juni 2006, mit dem alles anders wurde. An diesem Tag begann für Renate Mulofwa eine Odyssee durch die wundersame Welt der Alternativmedizin. Vier Jahre lang ist sie diesen Weg gegangen; nur einmal, 2008, hat sie ihn für kurze Zeit verlassen.

Mulofwa war zu Besuch bei einer Freundin, als das Handy klingelte. Am Apparat war der niedergelassene Gynäkologe aus dem Nachbardorf. Kurz zuvor hatte er ihr eine Gewebeprobe aus der linken Brust entnehmen lassen. Sie habe Krebs, sagte der Mediziner kurz angebunden. Er habe sie für die kommende Woche zur OP im Krankenhaus angemeldet. So jedenfalls erinnert sie sich.

Der Gynäkologe sagt, so könne es nicht gewesen sein. Seine ärztliche Ethik verbiete ihm, einen solch schwerwiegenden Befund am Telefon mitzuteilen.

Die Wahrheit wird sich heute nicht mehr ermitteln lassen. Mulofwa jedenfalls beteuert, sie habe diesen Arzt von Anfang an als kühl, desinteressiert und arrogant empfunden. Er trug für sie das Gesicht einer herzlosen Schulmedizin. Und dann stellte sie sich die Chemotherapie vor: das Ausfallen der Haare, das Kotzen

auf dem Klo. Nein! Sie beschloss, der Schulmedizin keine Chance zu geben.

So erfuhr sie fatalerweise nicht, wie gut es noch um sie stand: Kein Lymphknoten war befallen, der Krebs kleiner als fünf Zentimeter und "mäßig differenziert". Eine Chemotherapie wäre wohl gar nicht nötig gewesen. Man hätte effektiv mit Hormonblockern behandeln können. Die Heilungschancen standen gut.

"Ich will nicht anderen die Schuld zuschieben, ich war verbohrt und hatte mir in den Kopf gesetzt, allen zu zeigen, dass es auch anders geht", sagt sie heute und schüttelt den Kopf, auf dem jetzt, nach fünf Zyklen Chemotherapie, nur noch Haarflaum wächst. Auf dem Wandregal in ihrem kleinen Wohnzimmer steht ein Foto, das sie vor gut 20 Jahren zeigt, lange blonde Haare, strahlendes Lächeln, im Spagatsitz auf einem gefällten Baum. Heute, findet sie, sehe sie dagegen aus "wie ein frischgeschlüpfter Geier".

Ist sie also nur "selber schuld"? Schuld, weil sie sich von den Versprechen der Wunderheiler verführen ließ? Welche Schuld tragen die Verführer?

Renate Mulofwa erkennt heute an sich Eigenschaften, die sie zum idealen Opfer der esoterischen Parallelwelt machten: Sie sieht sich als "leicht beeinflussbar". Sie fällt ihre Entscheidungen "aus dem Bauch heraus". Wenn ein charismatischer Heiler ihre beiden Hände warm umfasst und im Brustton innerer Überzeugung verspricht, "das bekommen wir schon hin!", ist ihr das lieber als der gnadenlose Realismus der Schulmediziner.

Und so begab sie sich in den Dschungel der Alternativmedizin, in dem ihr niemand den Weg wies zwischen seriösen Heilmethoden und lebensgefährlicher Scharlatanerie.

Den ersten Tipp hatte sie von ihrem Bruder: ein Bauer, der eine Kollegin durch Handauflegen von einer hartnäckigen Allergie befreit habe. Mulofwa fuhr in ihrem grünen Bully ins Allgäu. Ein freundlicher, älterer Mann mit rotem Gesicht und dickem Bauch empfing sie in seiner Wohnstube. In der Ecke stand ein Altar, umringt von Marienstatuen in allen Größen. Seine Hände auf ihren Schultern waren warm, es tat gut, die Energie fließen zu spüren. Und der Bauer war bescheiden, er sprach nicht von Bezahlung. Mulofwa gab ihm 100 Euro, blieb eine Woche, übernachtete im Bully, genoss die Natur und ihre Freiheit.

Einmal traf sie dort eine andere Krebspatientin, die ihr heimlich riet: "Ich habe mich nebenher operieren lassen und Chemo gemacht, tun Sie das auch! Aber sagen Sie ihm bloß nichts davon, er mag das nicht." Mulofwa lernte: Mit den Heilern verhält es sich wie mit den Ärzten. Man muss folgsam sein, damit man Zuwendung bekommt.

Ein Büchlein in gelbem Einband wies ihr den weiteren Weg: 1978 erschienen, firmiert der Band bei Amazon bis heute unter den Top Ten in der Kategorie "Krebsratgeber". Unter dem Titel "Krebs, Leukämie und andere scheinbar unheilbare Krankheiten" will der Autor - auch ein Landwirt - glauben machen, dass man den Krebs in einer 42-Tage-Diät "aushungern" könne: ein weitverbreiteter Irrglaube, der allen Erkenntnissen der Zellbiologie trotzt. Der "Theorie" vorangestellt sind zahlreiche Erfahrungsberichte von Krebskranken, die dank dieser "Breuss-Kur" angeblich geheilt wurden - auch ohne OP.

Eisern befolgte Mulofwa die Diät: sechs Wochen nur Tee und Gemüsesaft, mittags eine dünne Zwiebelsuppe. Sie verlor 14 Kilogramm, das Haar fiel ihr büschelweise aus - nur der Knoten in der Brust wurde nicht kleiner.

Hätte sie an diesem Punkt, ernüchtert von dem Fehlschlag, den Ausstieg finden können? "Meine Mutter ist sehr stark. Man kann auf sie einreden, am Ende tut sie, was sie will", sagt ihre Tochter, eine diplomierte Krankenschwester. Als Vertreterin der Schulmedizin, sagt sie, wäreihre Mutter ihrem Rat ohnehin nicht gefolgt.

Auch Vera Hermann, ihre Heilpraktikerin und Freundin, mied den Konflikt. Zunächst wollte sie Mulofwa mit vorsichtigen Worten zur OP bewegen - danach könne man immer noch den alternativen Weg gehen. "Aber du hattest Scheuklappen, hast nur wahrgenommen, was noch in dein Weltbild passte", sagt sie heute, und Mulofwa bestätigt reumütig: "Du hast recht. Hättest du damals radikal auf mich eingeredet so wie andere, ich wäre nicht mehr zu dir gekommen!"

Zu dieser Zeit hatte Mulofwa bereits zwei Regalreihen voller Bücher über ihren Krebs angesammelt. Ihnen allen ist gemein, dass sie der Schulmedizin ankreiden, "nur die Symptome, nicht die Ursache" zu behandeln. Sie suggerieren einen scheinbar einfachen Weg zur Rettung. Mal sind es hochdosierte Vitamine, mal die von der Wissenschaft angeblich unterdrückten Erkenntnisse über die Heilpflanze Aloe vera, mal muss nur das Verhältnis zur eigenen Mutter bearbeitet werden. Unter verführerischen Titeln wie "Chemotherapie heilt Krebs und die Erde ist eine Scheibe" (auch ein erfolgreicher Longseller) greifen dubiose Autoren die Schulmedizin geschickt dort an, wo sie an ihre Grenzen stößt.

In einem Buch über die Germanische Neue Medizin des mehrfach verurteilten ehemaligen deutschen Arztes Ryke Geerd Hamer las Mulofwa über die "Eiserne Regel des Krebses": Tumoren beruhen demnach auf psychischen Konflikten. Mit lila Leuchtmarker hat sie die Textpassage angestrichen, in der es heißt, Schulmediziner versetzten Krebspatienten in Panik. "Wissende Patienten" aber hätten keine Angst, weil sie wüssten, dass es Metastasen gar nicht gebe.

Mulofwa sah sich bestätigt. War es nicht genau diese Panik, die sie so lähmte? Deshalb mied sie alle schulmedizinischen Ratgeber oder Zeitungsartikel und schaltete den Fernseher ab, sobald es in einer Talkshow um ihre Krankheit ging.

In ihren Büchern dagegen lernte Mulofwa, dass sie selbst verantwortlich sei für ihren Krebs. Hatte sie nicht nacheinander ihre beiden treuen Männer nach vielen Jahren guter Ehe verlassen, um schließlich 2003 einen jüngeren Afrikaner zu heiraten? "Auch wenn viele mich damals nicht verstanden haben: Es war eine tiefe Liebe auf den ersten Blick, und heute hält er treu zu mir!", sagt Mulofwa. Aber: Der Krebs sei dafür die Strafe, glaubte sie.

Unermüdlich eilte sie von Heiler zu Heiler, sie weiß nicht mehr, wie viele es waren: 20 vielleicht oder sogar 25? Sie ließ ihren Darm von böser Schlacke sanieren und sich Mistelextrakte spritzen, erprobte auch die Schlangengift- oder Eigenbluttherapie. Sie erlebte die Massenheilungen eines auf der Bühne tobenden nigerianischen Priesters und tibetische Yoga-Gruppen-Events.

Manche Erlebnisse treiben ihr heute Lachtränen in die Augen. Ein Heilpraktiker versetzte ihr einen Schubs in den Rücken, um ihre Aura zu prüfen. Sodann hörte sie, wie er im Werkzeugkasten kramte und sich hinter ihr zu schaffen machte. Eine "Reparatur der Aura", ausgeführt mit Hammer und Schraubendreher - "Klar habe ich gedacht, das ist Humbug, ein Teil von mir ist ja nicht blöd. Aber für mich galt: Es schadet ja nichts."

Anfang 2008, in den Monaten vor ihrer Kapitulation, glaubte sie sich dann in besten Händen beim Allgemeinmediziner Dr. Norbert Vogel. Die stattliche Praxis mit hellen Räumen, heute von einer Nachfolgerin geführt, liegt in einem Züricher Villenviertel, gegenüber einem Sterbehospiz. An Dr. Vogel erinnert sich Mulofwa als kleinen Mann Ende fünfzig, altmodische Bundfaltenhose, der immerzu von Jesus Christus sprach.

Ihr Brustkrebs war damals schon stark gewachsen. Immer mehr Taschentücher musste sie ins BH-Körbchen der rechten, gesunden Brust stopfen, damit ihr niemand etwas ansah. Der Tumor sonderte ein gelbliches Sekret ab, und er blutete.

Dr. Vogel habe ihr Hilfe durch das Wundermittel Amygdalin versprochen - ein Extrakt aus Aprikosenkernen, von Alternativmedizinern auch "Vitamin B 17" genannt. Ein Komplott aus Wissenschaftlern und Pharmaindustrie - so hatte sie gelesen - unterdrücke das Wissen von der Wirksamkeit dieser Substanz, weil der Stoff nicht patentierbar sei. Für die täglichen Wunderspritzen habe Mulofwa 4000 Schweizer Franken bar auf die Hand gezahlt. Vogel, der nach Südamerika ausgewandert ist und nur eine E-Mail-Adresse hinterließ, reagierte nicht auf eine SPIEGEL-Anfrage.

Die handschriftlichen Aufzeichnungen des Arztes über jene Zeit umfassen eine Seite in krakeliger Schrift, am 18. April 2008 notierte er "exulc. Tumor deutlich gewachsen blutend" - an ebenjenem Tag sah er die blutende Brust, und Mulofwa flehte ihn an, sie jetzt doch in ein Krankenhaus zu überweisen. "Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, er hat sich ja so bemüht um mich", sagt sie.

Doch die monatlichen Blutwerte, die der Arzt abheftete, dokumentieren, dass sie sich unter seiner Obhut stetig auf eine lebensbedrohliche Blutarmut zubewegte. Als die Patientin drei Tage später im Paracelsus-Spital Richterswil von der Gynäkologin Angela Kuck aufgenommen wurde, stufte diese sie wegen der schlechten Blutwerte als zunächst nicht operabel ein. Sie erhielt Bluttransfusionen, der Krankenhauspfarrer nahm ihr die Beichte ab.

Erst nach drei Tagen war die Operation möglich, doch der Arztbericht konstatiert: Fünf von elf Lymphknoten in der Achsel waren zu diesem Zeitpunkt befallen, der Brustmuskel war infiltriert.

Neben Mulofwa im Dreibettzimmer lag die Patientin Barbara: Gleiches Alter,Darmkrebs, auch sie hatte sich nie operieren lassen wollen. Im Gespräch entdeckten beide seelenverwandte Frauen, dass sie bei den gleichen Heilern waren. Mulofwa erholte sich rasch von der OP, ihre neue Freundin wand sich bald vor Tumorschmerzen. Die Schwester schob sie in ein Nachbarzimmer. In der darauffolgenden Nacht hörte Mulofwa sie schreien, am Morgen war sie tot.

Tränenüberströmt saß sie am Abend bei Barbara im Keller, deren Leichnam lag dort von Blumen umgeben aufgebahrt. Mulofwa war geschockt; sie beschloss, anzunehmen, was die Ärzte ihr anboten: Strahlentherapie, Hormonblockade, Drei-Monats-Depotspritzen. Nur die Chemotherapie lehnte sie weiterhin ab.

In den folgenden Monaten schöpfte Mulofwa Kraft für ein neues Leben. Nach einem Dreivierteljahr fühlte sie sich gesund, verzichtete auf die Hormonblocker - die sie fünf Jahre lang hätte nehmen sollen. Ein gutes Jahr nach der OP fand sich dann erstmals ein Knoten in der anderen Brust. Die Ärztin, die sie aufsuchte, ordnete eine Ganzkörperuntersuchung im PET an.

Auf dem Tomografenbild ist ihr Körper gesprenkelt mit Punkten: Metastasen - in den Knochen, im Lymphsystem, in der Leber, in der Lunge. Sie sei nicht heilbar, sagte die Ärztin. Vielleicht könne eine "palliative Chemotherapie" die Krankheit noch für eine Weile im Zaum halten.

Heulend offenbarte sich Mulofwa ihrer Schwägerin - und diese wusste Rat: Ein Heilpraktiker in Zürich; eine Freundin habe nur Bestes berichtet.

Da war sie wieder, die Versuchung. Es dauerte nicht lange, dann unterzog sich Mulofwa wieder Kaffee-Einläufen, nahm Vollbäder mit basischen Salzen, schluckte Händevoll pflanzliche Kapseln.

Mulofwa spürte jetzt, wie ihre Kraft schwand. Täglich brachte sie weniger Gewicht auf die Waage. "Irgendwann muss jeder sterben", sagte sie zu ihren Freundinnen.

Ihr jüngster Sohn und ihre Tochter brauchten sie nicht mehr, sie würden ihren Weg schon machen. Ihr Mann würde wohl wieder zurück nach Gambia gehen. Dankbar war sie ihm, er war genau der Richtige für diese Jahre. Die Krankheit bedeutete kein Aus für das Körperliche. Die Brust, so hatte ihr Mann immer gesagt, sei für Afrikaner nicht sexy, sie diene zum Stillen.

Mulofwas Sorgenkind aber war ihr älterer Sohn, der noch bei ihr lebte. Nie hatte sie mit ihm über ihre Krankheit gesprochen, doch sie spürte, wie er litt. Ziemlich genau am Tag ihrer Krebs-OP hatte er seinen Job in einem Elektro-Großmarkt geschmissen, seither kam er nicht mehr auf die Beine. Für ihn, so dachte sie, müsste sie noch bleiben.

Der trockene Reizhusten wurde aufdringlich, am schlimmsten aber war die Atemnot. Mulofwa hatte das Gefühl, als sei ihre Lunge im Brustkorb eingezwängt.

Diesmal schickte sie ihr Heilpraktiker zu "einem Arzt seines Vertrauens": Joachim Chrubasik. Ein Ehrfurcht gebietender "Prof. Dr. med." schmückte seinen Namen.

Ein zweites Mal wog Mulofwa der Arzttitel in Sicherheit, sie glaubte, dass Chrubasik schul- und komplementärmedizinische Sicht verbinde. Heute sagt sie: "Ausgerechnet er hat mich wieder an den Rand des Grabes gebracht."

Bis 1996 leitete Chrubasik als Anästhesist eine Schmerzklinik in Heidelberg - ein anerkannter Wissenschaftler mit langer Publikationsliste. Doch er soll seine Patienten manipuliert und schon damals fragwürde Heilmethoden angewandt haben, erinnern sich frühere Mitarbeiter. Dann habe er nach Unregelmäßigkeiten seinen Beamtenstatus verloren. Sein damaliger Chef Eike Martin: "Ich war froh, dass sich das Problem so löste, denn wegen seiner Besessenheit und Selbstüberschätzung hat Chrubasik immer wieder Patienten gefährdet."

Sich und seine Welt präsentiert Chrubasik auf esoterischen Messen. Titel wie "Die Erschaffung der Welt" und "Kosmopsychobiologie" tragen die Broschüren, die an seinem Stand auf der "1. Er-Lebens-Messe" nahe Zürich erhältlich waren.

Der Professor ist ein stämmiger Mann mit rosa Gesicht, grauer Künstlerfrisur und Bärtchen. Auf der Messe predigt er gegen die Pharmaindustrie und erzählt im nächsten Moment, dass er seine Brille nicht mehr brauche, seit er regelmäßig Hagebuttenpulver zu sich nehme. Währenddessen kreisen im Publikum Medikamentenschachteln und Säfte, viele tragen im Produktnamen den Zusatz "nach Prof. Chrubasik", andere kommen von einem Pharmavertrieb unter seiner eigenen Adresse.

Mulofwa kennt viele dieser Produkte. Chrubasik habe sie ihr im Hinterzimmer einer Züricher Apotheke in zwei große Tüten gepackt und mitgegeben.

Damals, sagt Mulofwa, sei sie sofort dem Charisma des Professors erlegen. Gegen ihre Hüftschmerzen (die von den Metastasen herrührten), habe er ihr pflanzliche Schmerzmittel und gelgepolsterte Schuhe verschrieben. Heute erklärt er seine Strategie: "Das wichtigste ist, Krebspatienten schmerzfrei zu bekommen. Dann leben sie länger." Als sie ihm vom Husten und der Atemnot erzählte, habe er sie abgehorcht und gesagt, die Lunge sei frei. Auch heute bestätigt er: "Ihre Lunge war immer gut."

Miklos Pless, der sie wenig später behandelte, erinnert sich ganz anders. Mulofwa sei in dieser Zeit in einen "lebensbedrohlichen Zustand" gerutscht, erklärt der Onkologe. Im Brustkorb habe sich tumorbedingt literweise Wasser angesammelt, die Lunge sei gegen den Widerstand nicht mehr angekommen.

Mulofwa jedoch glaubte Chrubasik. Erst als daheim ihr Sohn sein Schweigen brach, geriet ihre Überzeugung ins Wanken. Weinend flehte er sie an: "Bitte, Mama, mach endlich die Chemo!" Das war der Wendepunkt. "Mit einem Mal wurde mir klar, was ich meinen Lieben aufgebürdet habe mit meiner Sturheit."

Der Onkologe Pless hatte sich gut vorbereitet auf das erste Gespräch mit seiner neuen Patientin. Er wusste, dass die Frau die Schulmedizin bisher immer abgelehnt hatte. Die meisten Patienten, sagt er, hätten Angst, dass sie im Krankenhaus in eine Spirale geraten, dass eine Therapie notwendig immer die nächste nach sich zieht. Und diese Angst sei nicht unberechtigt, findet Pless. "Deshalb verspreche ich meinen Patienten, dass ich ihre Autonomie immer respektieren werde", sagt er.

Von Komplementärmedizin habe er wenig Ahnung, gesteht er, aber er empfehle Therapeuten seines Vertrauens, wenn seine Patienten das wünschten. Gerade dass er Alternativen nicht grundsätzlich feindlich gegenüberstand, nahm Mulofwa für ihn ein.

Nach Aktenlage hatte Pless eine abgemagerte Frau erwartet, die vermutlich im Rollstuhl sitzen würde. Deshalb war er überrascht, als sie aufrecht sein Aufnahmezimmer betrat. Er sagte ihr nicht: "Wie konnten Sie es nur so weit kommen lassen!". Er sagte nicht: "Sie sind unheilbar krank." Stattdessen: "Ihr Allgemeinzustand ist immer noch recht gut. Wenn Sie sich selber eine Chance geben, könnte es Ihnen bald viel besser gehen."

Zuerst schickte er Mulofwa zum Lungenfacharzt, der ihren lebensgefährlichen Erguss in mehreren Sitzungen punktierte. Dann sagte Mulofwa ja zur Chemotherapie. Mit dem durchschlagenden Erfolg hatte selbst Pless nicht gerechnet: Die Geschwüre bildeten sich zurück, die Tumorschmerzen verschwanden, Mulofwa konnte wieder frei atmen, wenngleich der Husten blieb. Der Lungenfacharzt stellte drei Monate später überrascht fest, wie gut die Lunge wieder funktionierte.

Im Januar 2011 feierte Mulofwa ihren 50. Geburtstag und, so heißt es auf der Einladungskarte, ihr "zweites Leben". Heute, gut ein Jahr später, hat sie fünf Zyklen Chemotherapie hinter sich. Abgesehen vom Haarausfall hatte sie nie größere Probleme, sagt sie.

Sie wirke stärker als damals, sagt die Heilpraktikerin Hermann, die immer noch an ihrer Seite ist. Sie ist eine von drei Komplementärmedizinern, denen Mulofwa noch vertraut. Ihr schlichtes Fazit: "Zweimal wurde mir das Leben gerettet, zweimal war es die Schulmedizin." Sehr bewusst gehe sie jetzt an die Öffentlichkeit: "Ich will anderen Frauen meinen Weg ersparen."

Mulofwa hofft immer noch, sie könne den Krebs besiegen, mit Hilfe ihrer Selbstheilungskräfte, mit Globuli, Kräutern - und der Chemotherapie.


UPDATE: 27. Februar 2012


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


GRAFIK: Homöopathische Arznei
Reiki-Methode
Kristallpendeln
Mistelpflanze
(*) Name der Patientin geändert.


PUBLICATION-TYPE: Zeitung


ZEITUNGS-CODE: SP



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Spiegel Online


25. Februar 2012 Samstag 2:01 PM GMT+1 


Tödliche Entscheidung


RUBRIK: NEUE GADGETS


LÄNGE: 897 Wörter



HIGHLIGHT: Schrödingers Katze als Entscheidungshilfe: Ein Kätzchen ist beim Öffnen einer kleinen Box entweder tot oder lebendig. Das und mehr in der wöchentlichen Gadget-Rundschau von neuerdings.com.; http://www.spiegel.de/netzwelt/gadgets/0,1518,817395,00.html


Katzencontent der etwas anderen Art: Think Geek hat einen Helfer im Programm, die eine einfache Entscheidung zu einer Sache von Leben und Tod macht - jedenfalls für Schrödingers Katze. Ideal für Nerds, denen es zu profan ist, einfach eine Münze zu werfen.

Spätestens seit Folge 17 der Comedy-Serie "The Big Bang Theory" sollte das Gedankenexperiment des Quantenphysiker Erwin Schrödinger um Leben oder Tod einer hypothetischen Katze einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sein. Der Physiker ging in einem Gedankenspiel von einer Katze aus, die sich in einem geschlossenen Raum befindet, zusammen mit einem zu zerfallende Atomkern, einem Geigerzähler und Giftgas. 

Zerfällt der Kern, löst das den Geigerzähler aus, der daraufhin das Giftgas freisetzt. Quantenmechanisch scheint es nun möglich zu sein, dass sich ein Kern in einem Zustand der Überlagerung befindet, was bedeutet, dass er zugleich zerfallen und nicht zerfallen ist.

Was bedeutet das für die Katze? Ob sie tot ist oder nicht, erfährt man erst, wenn man den geschlossenen Raum öffnet. Beziehungsweise beendet man den schwebenden Zustand der Überlagerung durch das Öffnen und die Beobachtung. Genaueres steht im passenden Wikipedia-Artikel.

Die Entscheidungshilfe von Think Geek zitiert dieses Szenario und spielt mit dem Verhältnis von Ursache und Wirkung. So entscheidet man zwar mit dem Öffnen der Tür über Leben und Tod der virtuellen Katze, unterwirft seinen freien Willen aber auch dem Ergebnis. "Lebt" die Katze, beantwortet das eine vorher gestellte Frage mit "ja", liegt sie "tot" am Boden, heißt das "nein".

Alles, was man für diese Magie benötigt, sind 30 Dollar (rund 23 Euro) für die Entscheidungshilfe von Think Geek sowie drei AA-Batterien. (Frank Müller)

Video und mehr Fotos auf neuerdings.com

Sind sie auch ein nervöser Herumknibbler und -Fummler? Treiben Sie auch Ihre Umwelt damit in den Wahnsinn, alles mögliche anzufassen, zu drehen, herauszuziehen, nur weil sie nicht still warten können? Sind Kugelschreiber, Büroklammern, Telefone, Kaffeelöffel, nichts vor ihnen sicher? Dann gibt es jetzt die passende Ablenkung für Sie: den Gear Ring von Kinekt.

Zwei Ringe sind über eine Reihe von Zahnrädern miteinander verbunden und können gegeneinander gedreht werden. So kann man seine Nervosität unter Kontrolle halten - und lernt gegebenenfalls auch etwas über Mechanik. Weiterer Vorteil: Die Nervosität können Sie weitgehend unbemerkt von anderen in den Griff bekommen, so dass Sie damit nicht Ihre Umwelt belästigen. Nur ein kleines Surren könnte die Dreherei begleiten. In Situationen, in denen Stille gefragt ist (beispielsweise im Konzert oder bei der Ansprache Ihres Chefs) könnte der Gear Ring deswegen irritieren.

Ich hoffe nur, dass die Härchen auf dem Fingerrücken nicht eingeklemmt werden, denn das könnte unangenehm werden. Immerhin dürfte der Edelstahlring nicht rosten.

Der Ring kostet 165 Dollar, was umgerechnet etwa 125 Euro entspricht. Kinekt versendet weltweit kostenlos, verspricht die Website. Als einzige Frage bleibt, wie lange diese mechanische Droge bei den nervösen Zeitgenossen in meiner Umgebung wohl für Ablenkung sorgt, bevor wieder der nächste Kugelschreiber dran glauben muss. (Thomas Jungbluth)

Video auf neuerdings.com

Der Mail Melder ist ein kleines Gadget, das genau das tut, was der Name vermuten lässt: es vermeldet den Eingang neuer Mails. Beim Mail Melder handelt es sich um einen kleinen Plastikbriefumschlag für den Schreibtisch, der per USB an den Computer angeschlossen wird und nach der Konfiguration durch farbiges Aufleuchten auf den Eingang neuer Mails aufmerksam macht.

Der Benutzer kann bis zu zehn Konten anlegen, wobei über reine Mail-Postfächer hinaus auch Facebook, Twitter und Weibo angemeldet werden können. Jedem dieser Konten lässt sich eine Alarmfarbe zuordnen, die dann den Eingang neuer Nachrichten signalisiert. Der Mail Melder kennt vier Zustände: grün für einen leeres, gelb für eine halb gefülltes und orange für eine volles Postfach. Der Eingang neuer Nachrichten wird durch Aufleuchten in der dem Konto zugeordneten Farbe signalisiert.

Die Software, die das Gadget steuert, ist derzeit leider nur für Windows erhältlich, läuft unter allen Versionen des Betriebssystems von XP aufwärts und ist mit wenigen Klicks installiert. Das Programm selbst ist sehr schlicht gehalten und bietet nur das Nötigste. Man kann Mail-Accounts anlegen und ein paar Einstellungen wie etwa das Update-Intervall festlegen.

Der Mail Melder ist ein guter Begleiter für all jene, die während der täglichen Arbeit nicht alle Mail-Postfächer ständig im Auge behalten können, auch nicht von Pop-Up-Meldungen des Mail-Clients gestört werden aber trotzdem nichts verpassen wollen. Das Gadget selbst erfordert nach der ersten Konfiguration keinerlei Interaktion und hält den Benutzer stets unaufdringlich auf dem Laufenden. Wem das nicht genügt, der kann zusätzlich noch ein akustisches Alarmsignal aktivieren, das bei Nachrichteneingang über den PC ausgegeben wird.

Inzwischen gibt es auch ein Angebot an Zusatzprogrammen, wie zum Beispiel einen freien Treiber der den Einsatz des Mail Melders auch unter Linux ermöglicht. Oder ein PHP-Script, das die Steuerung des Gadgets über eine Website erlaubt. Auch wer der ursprünglich angedachten Funktionalität nichts abgewinnen kann, findet somit in dem Mail Melder für knapp 20 Euro ein interessantes Spielzeug.

Mehr Bilder auf neuerdings.com


UPDATE: 25. Februar 2012


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24. Februar 2012 Freitag 9:47 AM GMT+1 


Total App-gefahren


AUTOR: Jürgen Pander


RUBRIK: SMARTPHONE-NUTZUNG IM AUTO


LÄNGE: 746 Wörter



HIGHLIGHT: Im September kommt die neue A-Klasse auf den Markt - das weltweit erste Pkw-Modell, in dessen Bordelektronik sich ein Apple iPhone integrieren lässt. So will Mercedes das Auto zur Kommunikationszentrale aufrüsten - und zugleich das Rentner-Image der A-Klasse bekämpfen.; http://www.spiegel.de/auto/aktuell/0,1518,817098,00.html


Es gibt Menschen, die fühlen sich wie gelähmt, wenn sie einmal nicht online sind. Sitzen solche Typen hinterm Lenkrad, kommen sie ins Schwitzen: E-Mails können nicht gecheckt, Stichworte nicht gegoogelt, SMS nicht verschickt werden - kurz, das Smartphone hat Pause. Eine beklemmende Vorstellung. Mercedes lockt diese Internet-Afficionados nun mit dem Versprechen, "dem iPhone Räder zu verleihen".

Technisch ist die Sache rasch erklärt: Wer beim Kauf einer A-Klasse ein so genanntes Drive-Kit-Plus mitbestellt, kann das iPhone im Wagen per Kabel anschließen. Sodann sorgt die von Mercedes entwickelte Digital-Drive-Style-App dafür, dass die Inhalte des iPhones auf dem Bildschirm in der Mittelkonsole angezeigt werden und sich das iPhone über den Dreh-Drück-Regler in der Mittelkonsole bedienen lässt. 

Während die App - unter anderem beinhaltet sie personalisierbares Internetradio, Navigation sowie Aktionen in sozialen Netzwerken - kostenlos ist, verlangt Mercedes für das Drive-Kit-Plus einen Aufpreis. Der wird nach Auskunft aus Stuttgart "einige hundert Euro" betragen. Dazu addieren muss man noch den Preis für das CD-Radio Audio 20, denn erst damit erhält die A-Klasse auch ein brauchbares Display. Fürs bisherige Modell kostete das Gerät rund 900 Euro extra - billiger wird es bei der neuen A-Klasse sicher nicht.

Es geht für Mercedes nicht nur um ein neues Gimmick für die Generation Facebook, sondern auch um Imagepflege - speziell bei der A-Klasse. Das bislang in Sandwich-Bauweise gefertigte Auto mit der daraus resultierenden, höheren Sitzposition, entwickelte sich zum Bestseller unter älteren Autofahrern. Der neue Wagen dagegen ist klassisch flach konstruiert und deutlich sportlicher designt. Die iPhone-Integration ist als zusätzliche Maßnahme zu verstehen, um das Rentner-Image der A-Klasse abzustreifen und das Auto jünger und moderner zu positionieren.

Die Integration funktioniert erst ab iPhone-Generation vier

Die iPhone-Integration funktioniert übrigens erst bei den neueren Geräten, nämlich ab der iPhone-Generation 4, die im Sommer 2010 auf den Markt kam. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber von diesen Geräten dürften in Deutschland rund drei Millionen in Betrieb sein. Wer die jüngste Version iPhone 4S besitzt, könnte bei entsprechender Aufrüstung der kommenden A-Klasse auch die Spracherkennungssoftware Siri nutzen - dies ist ebenfalls eine Weltpremiere in der Autowelt.

Siri versteht nicht nur bestimmte Kommandos, sondern kapiert die normale Sprache und fragt in Zweifelsfällen nach. So lässt sich per Sprachsteuerung auf den Kalender zugreifen, um etwa während der Fahrt Termine zu vereinbaren oder abzusagen. Auch Kurzmitteilungen lassen sich diktieren und versenden oder man durchstöbert per Ansagen die Musiksammlung auf dem iPhone.

Mercedes plant, die iPhone-Integration in der Folge auch für die Baureihen B-, C- und E-Klasse anzubieten. Mit dem Apple-Gerät beginne man, "weil es das Maß der Dinge" sei sagt eine Mercedes-Sprecherin. Im kommenden Jahr sollen aber auch Verbindungslösungen für andere Smartphone-Typen angeboten werden, etwa von Nokia, HTC oder Samsung. Genutzt wird dafür dann der ab 2013 geltende offene Standard Mirror Link. Auch damit lassen sich die Inhalte des Smartphones ins Fahrzeug-Display einspielen und über den fest im Wagen eingebauten Dreh-Drück-Regler bedienen.

Internet im Auto - ein aktueller Test ergab ernüchternde Ergebnisse

Das Bestreben, Internet im Auto verfügbar zu machen und brauchbare Apps für Facebook oder Twitter anzubieten, gibt es nicht nur bei Mercedes, sondern auch bei Audi und BMW. Eine so weit gehende Smartphone-Integration wie Mercedes können die beiden bayerischen Hersteller zwar noch nicht bieten, dafür aber gibt es bei Audi auf der Mittelkonsole ein Touchpad, auf das man per Fingerbewegung Buchstaben schreiben kann um so schneller und einfacher durch die Menüs zu navigieren. Und BMW bietet spezielle Apps sowie eine Bluetooth-Verbindung an, mit der sich iPhone-Inhalte in begrenztem Umfang in den Bordcomputer übertragen und per iDrive-Controller auf der Mittelkonsole steuern lassen.

Die Fachzeitschrift "auto, motor und sport" berichtet in der aktuellen Ausgabe über die Internet-Anbindung in Audi A6, BMW 5er GT und Mercedes E-Klasse und kommt zu dem ernüchternden Ergebnis: "Beim Surfen offenbarten alle drei Systeme große Schwächen." Vielleicht ist das ganz gut so. Denn wer möchte auf der realen Autobahn von Fahrern umgeben sein, die gleichzeitig auf der Datenautobahn dahinrasen?


UPDATE: 12. April 2013


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23. Februar 2012 Donnerstag 6:34 PM GMT+1 


"Wir leben in Angst vor dem nächsten Massaker"


RUBRIK: MARIE COLVINS LETZTE REPORTAGE AUS SYRIEN


LÄNGE: 1981 Wörter



HIGHLIGHT: Das Dauerfeuer der syrischen Armee, die verwüstete Stadt, traumatisierte Familien: Marie Colvin dokumentierte das unermessliche Leid der Menschen in Homs - bis sie selbst tödlich von einer Granate getroffen wurde. Lesen Sie ihre letzte Reportage für die "Sunday Times".; http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,817205,00.html


Sie nennen es den Keller der Witwen. Zwischen provisorischen Betten und allem möglichen Hab und Gut drängen sich verängstigte Frauen und Kinder. Sie sind Gefangene des Horrors von Homs. Seit zwei Wochen wird die syrische Stadt unablässig bombardiert.

Unter den dreihundert Menschen, die sich in den Keller einer Fabrik im Stadtteil Baba Amr geflüchtet haben, ist auch die 20-jährige Noor, die ihren Mann im Geschosshagel verloren hat. "Unser Haus wurde von einer Rakete getroffen", erzählt sie. "Danach lebten 17 von uns in einem Zimmer." Mimi, ihre dreijährige Tochter und Mohamed, ihr fünfjähriger Sohn, klammern sich an ihre Abaja.

"Zwei Tage haben wir außer Zucker und Wasser nichts mehr zu essen gehabt, und dann ist mein Mann losgegangen, um Lebensmittel zu finden." Das war das letzte Mal, dass sie Masiad, der in einer Werkstatt für Handys arbeitete, gesehen hat. "Er wurde von einer Granate in Stücke gerissen." Für Noor war es ein doppelter Schicksalsschlag, denn ihr 27-jähriger Bruder Adnan wurde zusammen mit Masiad getötet. 

Jede Frau im Keller hat solche Geschichten von Not und Tod zu erzählen. Sie haben sich in dieses Loch geflüchtet, weil es einer der letzten unversehrten Keller in Baba Amr ist. Tagsüber schieben sie die Schaumstoffmatratzen an die Wände ihres Unterschlupfs; die Kinder haben seit Beginn der Belagerung durch die Regierungstruppen am 4. Februar das Tageslicht nicht mehr gesehen. Die meisten Familien hatten keine Zeit mehr zu packen. Was sie noch besitzen, tragen sie am Körper.

Dem Bombeneinschlag wie durch ein Wunder entkommen

Die Lebensmittel sind knapp geworden in der Stadt, Reis haben sie noch und Tee - und ein paar Dosen mit Thunfisch, die einer der Clanführer aus einem ausgebombten Supermarkt mitgebracht hat.

Letzte Woche ist im Keller ein Baby zur Welt gekommen, es wirkt genauso verstört wie seine Mutter. Fatima, 19 Jahre alt, kam in den Keller, als ihr Wohnhaus dem Erdboden gleichgemacht worden war. "Wir sind dem Bombeneinschlag wie durch ein Wunder entkommen", flüstert sie. Sie ist schwer traumatisiert und kann ihrem Säugling nicht die Brust geben. Das Baby bekommt Zucker und Wasser, Milchpulver gibt es hier nicht.

Fatima weiß noch nicht, ob sie Witwe ist oder nicht. Ihr Mann arbeitet als Viehhirte und war draußen auf dem Land, als der Beschuss der Stadt begann. Aber sie hat seither nichts von ihm gehört.

Der Keller der Witwen ist wie ein Sinnbild für die Lage der 28.000 Männer, Frauen und Kinder in Baba Amr. Der Stadtteil besteht vor allem aus Einfamilienhäusern, die aus einfachen Hohlblocksteinen hochgezogen sind. Die Siedlung ist auf allen Seiten von der syrischen Armee umzingelt. Das Militär feuert wahllos mit Raketenwerfern, Mörsern und Panzerkanonen auf das Wohngebiet.

Scharfschützen auf den Häusern, rennende Menschen

Auf den Dächern der benachbarten Baath-Universität und von den höheren Gebäuden, die Baba Amr umgeben, liegen Scharfschützen, die auf jeden Zivilisten feuern, den sie ins Visier bekommen. In den ersten Tagen der Belagerung sind die Bewohner des Viertels gleich reihenweise umgemäht worden. Inzwischen wissen sie, wo Scharfschützen lauern. Wenn sie aus der Deckung über eine Kreuzung müssen, rennen sie, so schnell sie können. Autos sind auf den Straßen kaum noch zu sehen.

In fast jedem Gebäude klaffen Krater; Raketen und die Geschosse der Panzerkanonen haben Löcher in Fassaden und Zwischendecken gerissen. Das Haus, in dem ich untergebracht war, verlor in der vergangenen Nacht das komplette obere Stockwerk. In manchen Straßen sind ganze Gebäude eingestürzt. Übrig bleiben die zerfetzten Kleidungsstücke der Bewohner, ihr zerborstenes Mobiliar, zerbrochene Teller, Tassen und Töpfe.

Baba Amr ist ein Viertel der Hungrigen und Frierenden, das widerhallt vom Krachen der explodierenden Raketen und von den Salven der Gewehre. Es gibt kein Telefon mehr in der Stadt, und auch die Stromleitungen sind längst gekappt. Nur wenige Familien haben Diesel, um mit ihren Öfen gegen die Kälte anzuheizen. An einen Winter wie diesen kann sich niemand erinnern.

Brotwurf über die Dächer von Homs

Die Pfützen in den Schlaglöchern werden zu Eis, und Schnee weht durch zerschossene Fenster. Geschäfte sind geschlossen oder zerstört, die Familien teilen das wenige, das sie haben, mit ihren Nachbarn. Viele Menschen gerieten bei der Suche nach Lebensmitteln ins Feuer der Armee und wurden getötet oder verletzt. Aus Angst vor den Scharfschützen werfen sich manche Bewohner der Stadt das Brot über die Dächer zu - oder sie durchbrechen sogar die Wände zwischen den Häusern, um sich unentdeckt Lebensmittel zu reichen.

Die regulären syrischen Truppen haben einen Graben ausgehoben, der fast um die gesamte Stadt läuft. Sie lassen kaum noch jemanden rein nach Baba Amr oder raus aus der Stadt. Die Armee setzt ihr Vorhaben gnadenlos um, den Widerstand gegen das Regime in Homs, Hama und den anderen Städten zu brechen.

In Baba Amr steht die Zivilbevölkerung geschlossen hinter der Freien Syrischen Armee (FSA), dem bewaffneten Arm der Opposition gegen Assad. Aber es ist ein ungleicher Kampf: Die Rebellen haben Kalaschnikows, die Armee fährt Panzer und schwere Geschütze auf. Etwa 5000 Soldaten hat die Regierung rund um Baba Amr zusammengezogen. Es heißt, sie würden einen Angriff am Boden vorbereiten.

"Es wird ein Massaker geben"

"Wir haben große Angst, dass die FSA aus der Stadt abzieht", sagt Hamida. Die 43-Jährige versteckt sich mit ihren Kindern in einer verlassenen Erdgeschosswohnung, ihr Haus wurde von Bomben zerstört. Sie fürchtet: "Es wird ein Massaker geben."

Was jeder denkt und kaum jemand ausspricht, ist die Frage: "Warum lässt uns die Welt im Stich?"

Die Bilanz von Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon sah vergangene Woche so aus: "Wir sehen, wie wahllos Wohngebiete beschossen werden, dass in Krankenhäusern gefoltert wird, dass Kinder, die vielleicht zehn Jahre alt sind, getötet oder missbraucht werden. Was wir hier beobachten, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit." Doch die internationale Gemeinschaft konnte sich nicht dazu durchringen, diesen unschuldigen Opfern zur Hilfe zu kommen.

Der 20-jährige Abd al-Madschid hat dabei geholfen, Verwundete aus einem zerschossenen Gebäude zu retten. Seine Bitte an mich ist ganz simpel: "Sag der Welt, dass sie uns helfen muss", sagt er zitternd. "Hauptsache, das Bombardement hört auf. Sag ihnen bitte, dass sie aufhören zu schießen!"

Als die Zeiten noch besser waren, verlief die Straße vom Libanon nach Homs durch ärmliche, aber idyllische Dörfer. Unbefestigte Alleen, von Zypressen und Pappeln gesäumt, führten zu bescheidenen, einfachen Häusern und ihren Obstgärten.

Heute liegt Angst über der Idylle, das spürt jeder, der diesen Weg nimmt. Dabei ist dieser Landstrich zum größten Teil "freies Syrien", das von der FSA kontrolliert wird. Trotzdem hält Assads Armee die wichtigsten Kreuzungen, seine Truppen sind in Schulen stationiert, in den Krankenhäusern, Fabriken. Die Soldaten sind schwer bewaffnet, sie haben die Feuerkraft von Panzern und Artillerie in der Hinterhand.

Wer nach Homs will, muss sich also auf den Wegen durch die Felder durchschütteln lassen. Gelegentlich kommt man an einem Checkpoint der FSA vorbei. Die Männer wärmen sich an einem Lagerfeuer und schauen sich jeden Wagen, der passieren will, ganz genau an. Im Dunklen ist die Reise noch gespenstischer, dann sind nur noch die Strahlen von Taschenlampen zu sehen, die von unsichtbaren Figuren geschwenkt werden. Sie geben ein Zeichen, die Strecke ist frei, weiter!

Die Bauern kennen alle Schleichwege

In jedem Auto, das FSA-Land durchquert, fährt ein Hirte oder Bauer mit, der sich mit den Gegebenheiten vor Ort auskennt. Die syrische Armee hat zwar noch die Macht im Land, aber nur die Leute vor Ort kennen die Nebenstrecken und Schleichwege.

Auch ich bin auf der Route der Schmuggler nach Homs gekommen. Ich musste vorher versprechen, dass ich nicht verraten würde, wie ich in die Stadt gelangte. Zum Schluss ging es durch schlammige Gräben und über Mauern. Als ich Homs in den frühen Morgenstunden erreichte, erwartete mich schon ein regelrechtes Empfangskomitee, das große Hoffnungen auf ausländische Journalisten setzte.

Endlich würde jemand der Welt vom Schicksal ihrer Stadt berichten. Alle kletterten auf die offene Ladefläche eines Lieferwagens, und der Fahrer raste mit eingeschaltetem Fernlicht los. "Allahu akbar!", brüllten sie hinten. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis die syrischen Soldaten das Feuer auf uns eröffneten.

Später stieg ich in einen kleineren Wagen um, jetzt ohne auffälliges Scheinwerferlicht. Es ging dunkle, leere Straße entlang, die Gefahr war förmlich zu spüren. Auf einem offenen Stück Straße feuerte die syrische Armee mit Maschinengewehren und Granaten auf uns. Wir suchten hinter verlassenen Gebäuden Schutz.

Das Ausmaß der menschlichen Tragödie ist gewaltig. Abu Ammar, 48-jähriger Taxifahrer, berichtet, wie er in der vergangenen Woche sein Haus verlassen hat, um nach etwas zu Essen zu suchen. Zusammen mit seiner Frau und der Adoptivtochter hatte er bei zwei älteren Schwestern Unterschlupf gefunden.

Nur eine rote Bluse in den Trümmern

"Als ich zurück kam, war von dem Haus nichts mehr übrig", sagte Ammar. Nur einige Reste Mauerwerk standen noch - im Schutt der Ruine leuchtete eine rote Frauenbluse. Einige Gläser mit eingemachtem Gemüse hatten die Katastrophe überstanden, irgendwie. "Dr. Ali" - eigentlich Zahnarzt, jetzt Chirurg - sagte, eine der Frauen sei noch lebend in die Klinik gebracht worden. Später musste man ihr beide Beine amputieren und sie starb.

Die Klinik ist in Wirklichkeit nur eine Wohnung im ersten Geschoss, die der Besitzer freundlicherweise zur Verfügung stellt. Vieles wirkt deplatziert, wie aus einer anderen Welt. Infusionsbeutel hängen an Kleiderbügeln aus Holz, und über den Köpfen der Patienten drehen sich die Mobiles der Kinder, die hier einmal lebten.

Das Bombardement vom Freitag was das bisher schwerste überhaupt. Immer mehr Verwundete kamen in der Klinik an, von Verwandten gefahren, auf der Rückbank ihrer Autos. Ali der Zahnarzt schnitt dem 24-jährigen Ahmed al-Irini auf einem der zwei OP-Tische der Klinik die Kleidung vom Leib. Granatsplitter hatten seinen Oberschenkel in blutige Fetzen gerissen. Auch unterhalb seines linken Auges steckte ein Metallsplitter.

Seine Beine zuckten noch einmal, als al-Irini auf dem OP-Tisch starb. Sein Schwager, der ihn in die Klinik gefahren hatte, brach in Tränen aus. "Wir haben Karten gespielt, als die Rakete unser Haus traf", schluchzte er. Irini wurde in die provisorische Leichenhalle gebracht, ein Schlafzimmer weiter hinten in der Wohnung. Er wurde nackt aufgebahrt, eine Plastiktüte bedeckte seine Genitalien.

"Ich muss das hier aushalten. Ich muss"

Und so ging es weiter. Chaled Abu Kamali starb, bevor der Arzt auch nur seine Kleidung entfernen konnte. Er wurde in seinem Haus von einem Granatsplitter in der Brust getroffen.

Salah, 26 Jahre alt, war gleich von mehreren Granatsplittern getroffen worden, im Brustkorb und im Rücken. Eine Betäubung bekam er nicht, aber er konnte sogar noch sprechen, als Ali eine Metallröhre in Salahs Rücken einführte, um Blut aus seinem Brustkorb abzulassen.

Um die anderen Verwundeten kümmerte sich Um Ammar, eine 45-jährige Mutter von sieben Kindern, die sich freiwillig als Krankenschwester gemeldet hatte, nachdem das Haus ihrer Nachbarn getroffen worden war. Sie trug schmutzige Latexhandschuhe und weinte. "Ich muss das hier aushalten. Ich muss. Die Kinder, die hier eingeliefert werden, sie sind alle meine Kinder", sagte sie. "Aber es ist so schwer."

Achmed Mohammed war Militärarzt in der Armee Assads - bis er desertierte. Jetzt ruft er in den Raum: "Was ist denn eigentlich mit den Menschenrechten. Haben wir etwa keine? Wo sind denn eigentlich die Vereinten Nationen?"

Auszüge aus der letzten Reportage von Marie Colvin, erschienen am 19. Februar 2012. © The Sunday Times

Übersetzung: Olaf Kanter, Johannes Korge


UPDATE: 24. Februar 2012


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23. Februar 2012 Donnerstag 11:49 AM GMT+1 


2:0 für Luther


AUTOR: Jakob Augstein


RUBRIK: S.P.O.N. - IM ZWEIFEL LINKS


LÄNGE: 762 Wörter



HIGHLIGHT: Gauck und Merkel - zwei ostdeutsche Protestanten führen jetzt das Land. Adenauer würde sich im Grabe umdrehen. Aber wenn Gauck ein Lehrmeister der Demokratie sein will, muss er selber noch viel lernen.; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,816885,00.html


Wer Ohren hat zu hören, der wird hören. Da kann Joachim Gauck sicher sein. Alle warten jetzt auf seine Antrittsrede. Was für ein Glücksfall für einen Prediger: Ein ganzes Land lauscht als begierige Gemeinde seinen Worten. Deutschland ist so enttäuscht, so sinnentleert, da kann Gauck nur gewinnen. Von seiner ersten Rede verspricht sich das Land schon jetzt eine amtlich beglaubigte Agenda der Gegenwart: Was drin ist, ist in.

Dabei wird Gauck, wenn er ein Lehrer sein will, vor allem selbst lernen müssen. 

Seine Begeisterung für die revolutionären Errungenschaften der DDR-Bürgerbewegung kennt keine Grenzen. Wenn es um die Überwindung des ostdeutschen Unrechtsstaats geht, lässt er sich von seiner eigenen, zu Recht gerühmten Rhetorik, glatt zu Tränen rühren. Aber für Gauck hat die Revolution ihren Reiz vor allem im Rückblick: "Ich habe 68 vieles an den westdeutschen Unis für Blödsinn gehalten, weil für mich 68 Prag war. Aber heute weiß ich, in diesem Land des Gehorsams war das etwas ganz Tolles."

So geht es ihm jetzt wieder: Im Moment kann er nichts "Tolles" an der gegenwärtigen Protestbewegung finden. Es wäre schön, wenn nicht erst ein paar Jahre vergehen müssten, bis Gauck begreift, dass die Anti-Kapitalismus-Debatte keinesfalls "unsäglich albern" ist, wie er im vergangenen Oktober losgepoltert hat.

Gauck muss lernen

Einen "wahren Demokratielehrer" nannte die Kanzlerin Gauck, und er widersprach nicht. Dabei heißt es in der Bibel: "Und ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen; denn einer ist euer Lehrer: Christus." Aber da hält Gauck es lieber mit Angela Merkel als mit Matthäus. Mangelndes Selbstbewusstsein hat ihm noch niemand vorgeworfen. Merkel wusste schon, warum sie ihn verhindern wollte. Er war der Kandidat der anderen. Aber das war nicht alles. Zu den CDU-Granden soll sie am Wochenende gesagt haben: "Ich schätze ihn ja, und er hat ja auch recht mit den Bürgerrechten und der "Idee der Freiheit", aber das allein reicht nicht für einen Bundespräsidenten." In der Tat: Gauck muss lernen. Der 18. März, der Tag seiner ersten Rede, muss auch der Tag sein, an dem der Bundespräsident deutlich macht, dass er das vielgestaltige Unbehagen begriffen hat, das die Menschen im Angesicht des kapitalistischen Terrors erfasst. Die Freiheit kommt nicht nur in der Diktatur des Proletariats zu kurz, sondern auch in der Diktatur des Profits.

Die Freiheit ist sein großes Thema. Dafür ist dieser Pastor zum Politiker geworden. Seine Kirche heißt jetzt Deutschland, sein Evangelium ist die Freiheit. Er bleibt dabei durch und durch Protestant. In den Worten Luthers: "Möchte also die ganze Welt voll Gottesdienstes sein: nicht allein in der Kirche, sondern auch im Haus, in der Küche, im Keller, in der Werkstatt, auf dem Feld, bei Bürgern und Bauern."

Das ist die Vergeistlichung der Welt, das Wesen des Protestantismus: jeder Moment des Tages ein Akt des Glaubens - bei Gauck nun jeder Tag ein Akt der Demokratie. Das kann alles nicht schaden in einem Land, das die Freiheit selbst in der Nationalhymne erst an letzter Stelle nennt. Wenn sie es mit der Freiheit zu tun bekommen, fürchten in Deutschland die Rechten um die Ordnung und die Linken um die Gleichheit.

Auf geheimnisvolle Weise die Gesetze der Umfragen ausgehebelt

Merkel konnte Gauck nicht stoppen, und das wird ihr jetzt als Niederlage ausgelegt, als Hinweis auf das Ende der schwarz-gelben Koalition. Die ist allerdings seit der Übernahme der Amtsgeschäfte in erbärmlichem Zustand. Aber die vorgebliche Merkel-Dämmerung in der Presse dauert nun schon so lange, und dabei sinkt Merkels Stern wie in einem nördlichen Sommer nie unter den Horizont, sondern erhellt auch noch die Nacht. Sie hat auf geheimnisvolle Weise die Gesetze der Umfragen ausgehebelt und bleibt einfach beliebt, egal welche innenpolitische Volte sie schlägt.

Am Ende ist diese Präsidentenwahl, mehr noch als jene Christian Wulffs vor zwei Jahren, eine sonderbare Posse der deutschen Geschichte: Ausgerechnet Merkel lehnt Gauck ab, obwohl beide im Osten die sozialistische Unfreiheit kennengelernt haben und obwohl er ein Sprachrohr der im Westen gewonnenen Freiheit sein will. Sie aber stemmt sich aus taktischen Gründen dagegen. Und ausgerechnet die Linken, die ostdeutsche Volkspartei, sind im Abseits, wenn zwei Politiker aus dem Osten an der Spitze des Staates stehen.

Jetzt stehen sie also gemeinsam über den Deutschen, Gauck und Merkel, wie ein altes Elternpaar, der strenge Vater und die listige Mutter. Vereint in ihrem ganzen protestantischen Rigorismus.

Der alte Adenauer wusste schon, warum er Bonn zur Hauptstadt machte.


UPDATE: 23. Februar 2012


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21. Februar 2012 Dienstag 2:21 PM GMT+1 


Schuldenschnitt kostet Steuerzahler Milliarden


RUBRIK: GRIECHENLAND-KRISE


LÄNGE: 680 Wörter



HIGHLIGHT: Griechenlands Rettung wird für Deutschland wohl teuer. Denn private Gläubiger haben versprochen, der Regierung in Athen rund 107 Milliarden Euro Schulden zu erlassen. Das trifft auch Banken in der Bundesrepublik - die teils vom Steuerzahler gestützt werden.; http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,816681,00.html


München - Der Schuldenschnitt für Griechenland ist beschlossen, und Europa atmet auf. Ein Bankrott in der Euro-Zone konnte gerade noch abgewendet werden. Doch die Rettung hat einen hohen Preis - nicht nur für die privaten Gläubiger, die der Regierung in Athen insgesamt rund 107 Milliarden Euro Schulden erlassen müssen. Auch die deutschen Steuerzahler könnten erstmals draufzahlen. 

Denn an dem Schuldenschnitt müssen sich auch deutsche Institute beteiligen. Allein die sogenannte Bad Bank der verstaatlichten Immobilienbank Hypo Real Estate (HRE) dürfte nach Angaben aus Finanzkreisen zu Abschreibungen in einem Volumen von sechs bis acht Milliarden Euro gezwungen sein. Für diese Verluste muss der staatliche Bankenrettungsfonds Soffin geradestehen - und damit letztlich der Steuerzahler.

In die Abwicklungsanstalt hatte die HRE im vergangenen Herbst Risikopapiere im Wert von 175 Milliarden Euro ausgelagert, um so einen Neustart zu schaffen. Sie hält griechische Staatsanleihen in Höhe von 7,2 Milliarden Euro.

Insgesamt haben sich die privaten Gläubiger - also Banken, Versicherungen und Hedgefonds - verpflichtet, auf 53,5 Prozent ihrer Forderungen gegenüber Griechenland zu verzichten. Die übrigen Forderungen tauschen sie in neue Papiere mit niedrigerem Zins und längerer Laufzeit, was zu zusätzlichen Belastungen führt. Unterm Strich müssen die Banken deshalb Abschreibungen von 73 bis 74 Prozent schultern.

Griechenland will Schuldenschnitt notfalls per Gesetz erzwingen

Eine gewaltige Belastung also - doch die privaten Banken in Deutschland rechnen dennoch mit einer regen Beteiligung des Finanzsektors an dem neuen Milliarden-Hilfspaket für Griechenland. "Nur wenn alle an einem Strang ziehen, können sich die Perspektiven für Griechenland wirklich verbessern", sagte Bankenverbands-Hauptgeschäftsführer Michael Kemmer am Dienstag.

Bis Anfang März sollen sich die Institute entscheiden, ob und wie sie sich an dem Schuldenschnitt beteiligen. Erst dann ist das zweite Rettungspaket wirklich in trockenen Tüchern. Denn ohne die Beteiligung der privaten Gläubiger werden keine neuen Rettungsmilliarden ausgezahlt. Und es gibt seit Wochen Spekulationen, dass sich Hedgefonds weigern könnten, bei dem Schuldenschnitt mitzumachen.

Die griechische Regierung traut dem Beschluss denn auch noch nicht so ganz. Sie will die privaten Gläubiger notfalls zum Forderungsverzicht zwingen. Ein entsprechendes Gesetz werde "in Kürze" dem Parlament vorgelegt, teilte das griechische Finanzministerium mit. Sollte der Schulenschnitt per Gesetz erzwungen werden müssen, drohen neue Komplikationen. Für diesen Fall wird damit gerechnet, dass Gläubiger klagen.

IWF bietet 23 Milliarden Euro für Griechenland-Paket

An der zweiten großen Baustelle gibt es indes Bewegung: Der Internationale Währungsfonds (IWF) plant, sich mit 23 Milliarden Euro am zweiten Hilfspaket für Griechenland zu beteiligen. Zehn Milliarden Euro davon sollen noch aus dem ersten Rettungsprogramm stammen, erklärte Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble am Dienstag in Brüssel.

Der IWF hatte Medienberichten zufolge angekündigt, seinen Anteil deutlich zu senken. Beim ersten - 110 Milliarden Euro schweren - Rettungspaket für das pleitebedrohte Griechenland hatte der Währungsfonds noch einen Anteil von 27 Prozent.

Die Reduzierung soll auf Bedenken von IWF-Mitgliedern zurückgehen, die ein Übergewicht zugunsten der Euro-Zone bei der Verteilung der Mittel des Fonds fürchten. Der IWF hat bereits 30 Milliarden Euro an Griechenland sowie 22,5 Milliarden Euro an Irland und 26 Milliarden Euro an Portugal vergeben.

Griechenland selbst steht auch nach dem Rettungsbeschluss massiv unter Druck. Das Parlament muss binnen einer guten Woche zahlreiche Reformen verabschieden. Athen habe sich verpflichtet, bis zum 29. Februar viele der zugesagten Einzelmaßnahmen durchs Parlament zu bringen, sagte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Dazu zählten Sparpakete für den Gesundheitssektor, eine Renten- und eine Arbeitsmarktreform, ein besserer Steuervollzug und eine strengere Finanzmarktregulierung.

ssu/dapd/dpa-AFX/Reuters


UPDATE: 21. Februar 2012


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21. Februar 2012 Dienstag 11:18 AM GMT+1 


Ökonomen zweifeln am neuen Rettungspakt


RUBRIK: GRIECHENLAND-KRISE


LÄNGE: 995 Wörter



HIGHLIGHT: Endlich ist die Einigung da, Griechenland bekommt neue Milliarden, ein Teil der Verbindlichkeiten wird erlassen. Griechische Politiker jubeln, doch Experten sind skeptisch: Das Land müsse nun rasch nötige Reformen anstoßen. Auch ist nicht klar, ob wirklich alle Gläubiger beim Schuldenschnitt mitziehen.; http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,816605,00.html


Hamburg - Bis in die frühen Morgenstunden haben die Euro-Finanzminister gestritten - dann stand das zweite Rettungspaket für Griechenland. Der hochverschuldete Staat bekommt neue Hilfen in Höhe von 130 Milliarden Euro, auch Banken, Versicherungen und Hedgefonds sollen Athen nun rund 107 Milliarden Euro an Schulden erlassen und die restlichen 93 Milliarden 30 Jahre stunden (alle Details lesen Sie hier).

Noch sind nicht alle Fragen geklärt. Noch verhandeln die Euro-Retter über die Beteiligung des Internationalen Währungsfonds. Noch müssen Banken, Versicherungen und Hedgefonds ihr Versprechen auch wirklich einlösen und den Schuldenschnitt für Griechenland tatsächlich durchziehen. Die Politik reagiert dennoch euphorisch auf die Einigung. 

Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble sagte, Athen könne nun "auf den nachhaltigen Pfad der Gesundung" kommen. Griechenlands Premierminister Loukas Papademos bejubelte einen "historischen Tag für die griechische Wirtschaft". Athens Finanzchef Evangelos Venizelos nannte das Ergebnis "besser als geplant".

Der Vorsitzende des Internationalen Bankenverbands (IIF) sprach von einem "bedeutenden Schritt zur Umsetzung des Schuldenumtausches". Als IIF-Chef vertritt Charles Dallara die Privatgläubiger bei den Verhandlungen über das zweite Rettungspaket.

Ökonomen skeptisch

Wesentlich skeptischer äußerten sich Ökonomen. "Ob die Rechnung aufgeht, wird sich erst Anfang März zeigen, wenn Griechenland den Banken und Fonds das formelle Umtauschangebot ihrer Anleihen gegen neue mit weit niedrigeren Zinsen unterbreitet", sagte Uwe Streich, Analyst bei der LBBW. Will heißen: Ob alle Geldkonzerne mitziehen, ist noch nicht endgültig geklärt.

Tatsächlich kommt das neue Rettungspaket die privaten Gläubiger teurer zu stehen als bislang gedacht. Banken müssten de facto Abschreibungen auf ihre griechischen Staatsanleihen von 73 bis 74 Prozent schultern, sagten mehrere mit den Gesprächen vertraute Personen der Nachrichtenagentur Reuters. Bislang war in den seit Monaten laufenden Gesprächen immer von 70 Prozent die Rede gewesen. Die höheren Lasten beruhen darauf, dass die Gläubiger nun auf 53,5 Prozent ihrer Forderungen verzichten und nicht mehr nur auf 50 Prozent. Zudem tauschen die Banken ihre alten griechischen Staatsanleihen in neue Papiere mit niedrigerem Zins und längerer Laufzeit, was zu zusätzlichen Belastungen führt.

Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, hat seine Zweifel, dass das Rettungspaket tatsächlich ausreicht. Allein im vergangenen Jahr habe Griechenland neue Schulden in Höhe von fast zehn Prozent der Wirtschaftsleistung gemacht, merkte er in einer Analyse an. Insgesamt sei das Land derzeit mit rund 160 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verschuldet.

Durch den Schuldenschnitt, die 130-Milliarden-Euro-Hilfen und die Sparbemühungen der Griechen werde bis 2020 ein Schuldenstand von 120 Prozent angepeilt. Das sei noch immer "doppelt so hoch, wie der Maastricht-Vertrag maximal erlaubt". Ohne tiefgreifende Strukturreformen werde Athen seine Schulden auch künftig nicht tragen können, sagte Krämer.

"Das wird nicht die letzte Umschuldung sein"

Zudem ändert die Hilfe nichts an den strukturellen Defiziten in dem von der Staatspleite bedrohten Land. Die Regierung in Athen hatte im Gegenzug für das Rettungspaket weitreichende Strukturreformen beschlossen. Der Arbeitsmarkt soll flexibler werden, die Löhne sollen sinken. Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank, fordert, die Weichen für diese Reformen nun rasch zu stellen. "Gespart worden ist genug", sagte er spiegel ONLINE. "Es geht darum, den Staatsapparat zu deregulieren. So müsse das Steuersystem vereinfacht werden. "Nur so lassen sich auch Steuern effektiv eintreiben." Der Ökonom forderte die Euro-Länder dazu auf, Griechenland bei der Ausarbeitung einer Wachstumspolitik zu unterstützen.

"Für Griechenland gibt es keine einfache Lösung mehr. Mit der Kombination aus einem Forderungsverzicht privater Gläubiger und einem neuen Finanzierungsprogramm haben sich die Verhandlungspartner gestern auf die weniger schlechte Alternative geeinigt", sagt Thomas Mirow, Chef der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, spiegel ONLINE. "Ein ungeordneter Zahlungsausfall würde Griechenland ins Chaos stürzen und nicht absehbare Folgen für das internationale Finanzsystem nach sich ziehen. Jetzt wird alles davon abhängen, dass Griechenland selbst - mit internationaler Hilfe - Strukturreformen umsetzt, die endlich neues, nachhaltiges Wachstum schaffen", so Mirow.

Zweifel hat auch Ansgar Belke vom Deutschen Institut für Wirtschaft. "Wenn man den internen Papieren der Troika Glauben schenkt, dann kann sich Griechenland frühestens in acht Jahren wieder selbst am Kapitalmarkt finanzieren", sagt er spiegel ONLINE. "Zudem spiegeln die Zahlen der Euro-Retter eine Genauigkeit wider, die so nicht gegeben ist", moniert er. "Niemand kann voraussagen, dass Griechenlands Schulden im Jahre 2020 bei exakt 120,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts liegen. Das ist schlicht unmöglich."

Skeptisch sind auch die Grünen. Die Einigung sei zwar generell zu begrüßen, sagte deren finanzpolitischer Sprecher Gerhard Schick spiegel ONLINE. "Doch das wird nicht die letzte Umschuldung sein." Das Land sei selbst nach dem Schuldenschnitt noch immer viel zu hoch verschuldet. Bei der nächsten Runde werde auch der Steuerzahler in die Pflicht genommen, sagte Schick.

Selbst die Troika aus EU-Kommission, IWF und EZB ist skeptisch. In ihrer Schuldenanalyse, die die Zeitung "Financial Times" in Auszügen im Internet veröffentlichte, wird vor einer Vertiefung der Rezession in Griechenland gewarnt. Würden sich notwendige Reformen und Privatisierungen weiter verzögern, drohe die Gesamtverschuldung Athens auch in acht Jahren noch bei 160 Prozent zu verharren, heißt es darin.

Verhalten sind auch die Reaktionen an den Märkten. Der Dax tendiert ungefähr auf dem Niveau des Vortags. Euro und Ölpreis sind nur leicht gestiegen.

ssu/ric/yes/dpa/Reuters


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21. Februar 2012 Dienstag 6:36 AM GMT+1 


Wo der Kaukasus abrockt


AUTOR: Helge Bendl


RUBRIK: EUROVISIONS-STADT BAKU


LÄNGE: 1403 Wörter



HIGHLIGHT: Glitzernde Fassaden, ambitionierte Bauvorhaben und neue Luxushotels: Baku putzt sich heraus. Aserbaidschans Hauptstadt bereitet sich auf den Eurovision Song Contest vor - und manch einer hofft, dass pünktlich zum Gesangswettstreit auch die Stimme der Demokratie zu hören ist.; http://www.spiegel.de/reise/fernweh/0,1518,815743,00.html


Es war einmal ein Ort, den die Perser "bad kube" nannten, Stadt der Winde. Die Wellen des Kaspischen Meers brandeten an ihre Befestigungen, hinter ihr lagen die schneebedeckten Berge des Kaukasus. Es war ein wildes Land des Feuers, wo die Erde Flammen ausatmete, weshalb man ihr in Tempeln huldigte.

Händler, unterwegs auf der Seidenstraße, genossen hier den Schutz des Schahs, der in einem prächtigen Palast residierte. Karawansereien gab es und Dampfbäder, Moscheen und einen Jungfrauenturm, von dem sich einst eine Prinzessin ins Wasser gestürzt haben soll, um einer arrangierten Ehe zu entgehen.

So klingen die alten Märchen, wie Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Und mit ein wenig Phantasie spürt man in den verwinkelten Gassen der Altstadt Bakus, inzwischen Unesco-Weltkulturerbe, noch einen Hauch dieser vergangenen Zeit. 

Jenseits des herausgeputzten historischen Zentrums mit seinen Teppichhändlern und Teeverkäufern, den altertümlichen Hammams und den Herbergen, die seit gut 500 Jahren existieren, baut man in der alten "Stadt der Winde" dieser Tage an einer neuen Märchenkulisse. Schon vor hundert Jahren ließen sich Ölbarone hier prächtige Villen errichten und setzten an die Stadtmauer gar ein Casino wie in Monte Carlo, das heute als Philharmonie dient. Jetzt befeuern die Einnahmen aus den Ölquellen vor den Toren der Stadt erneut einen Rausch.

"Baku verändert sich rasend schnell. Quasi über Nacht baut man Wolkenkratzer", sagt Orkhan Alakbarov. Der Manager arbeitet für die amerikanische Hotelkette Hyatt, die 1995 das erste Fünf-Sterne-Hotel in Aserbaidschan eröffnete und später mit einem weiteren Haus nachlegte. Aserbaidschan habe gerade seine Bewerbung für die Olympischen Spiele 2020 abgegeben, und auf einer künstlichen Inselkette im Kaspischen Meer solle nun sogar das höchste Gebäude der Welt entstehen.

Boomtown dank sprudelnder Ölquellen

Inzwischen wollen in Baku alle großen Hotelketten vertreten sein: Sheraton, Hilton und Kempinski haben schon eröffnet, Four Seasons und Marriott starten im Mai. Und Fairmont baut an den "Flame Towers", in deren Glasfassade sich die Minarette einer türkischen Moschee spiegeln.

Baku boomt. Das sieht man an den Luxusboutiquen, die sich in den prächtigen Gründerzeitbauten niederlassen. Und weil im Mai der Eurovision Song Contest ansteht und ganz Europa auf die Metropole am Kaspischen Meer blicken wird, lässt die Regierung die Stadt nun aufhübschen, wo es nur geht.

Tausende von Scheinwerfern beleuchten nachts die Gebäude an den wichtigsten Boulevards. Und wenn die Häuser trotzdem zu sehr nach Sowjetunion aussehen, kleben eben Handwerker schnell eine Portion Sandstein auf die Fassaden - natürlich nur auf den der Straße zugewandten Seiten. Potemkinsche Dörfer mitten in der Stadt.

Das echte Baku findet man als Besucher trotzdem. In verrauchten Bars rockt der halbe Kaukasus - das Nachtleben der Stadt ist legendär. "Aserbaidschan ist eine Republik. Wir haben zwar den Iran als Nachbar und sind Moslems. Gefeiert wird hier trotzdem", sagt ein Mädchen im Minirock. In Karaoke-Kneipen läuft Pop aus Russland, aber auch ein Oldie wie "Hotel California".

Und morgens, nach einer durchwachten Nacht, muss niemand Wodka und Schafskopf-Suppe frühstücken (eine lokale Spezialität). Auf den Basaren der Stadt gibt es auch weniger fettige Alternativen. Die High Society trifft sich inzwischen ohnehin beim Brunch.

Alternatives Musikfestival geplant

Für Teilnehmer des Eurovision Song Contest und Fans, die mit ihnen nach Baku reisen, wird der Weg zum Ruhm vom Heydar-Aliyev-Flughafen über die Heydar-Aliyev-Avenue führen, vorbei am gerade neu entstehenden Heydar-Aliyev-Kulturzentrum (der Heydar-Aliyev-Park mit Statue liegt nicht auf der Strecke) zum Bulvar, der grünen Uferpromenade.

Warum diese nicht den Namen des Ex-KGB-Kaders, Ex-Politbüro-Mitglieds und (nach seiner schnellen Abkehr vom Kommunismus) auch ersten Präsidenten der neu ausgerufenen Republik Aserbaidschan benannt ist, bleibt unklar. Der im Land allerorts gerühmte Heydar Aliyev ernannte vor seinem Tod Sohn Ilham zum Ministerpräsidenten; dieser wurde dann sein Nachfolger im Präsidentenamt.

Menschenrechtler werfen ihm die Gängelung der Medien vor, verweisen auf politische Gefangene, und wollen im Mai unter dem Motto "Sing for Democracy" ein Musikfestival für Einheimische und Touristen organisieren. "Niemand fordert hier einen Boykott des Eurovision Song Contest. Wir hoffen aber, dass Touristen nicht nur die schönen Seiten Aserbaidschans kennen lernen. Sie sollen auch über die Probleme des Landes Bescheid wissen", sagt Rasul Cafarov, ein 27-jähriger Jurist.

Inzwischen unterstützen 27 lokale Organisationen die Initiative. Diese dokumentieren unter anderem den nächtlichen Abriss von Wohnhäusern, mit dem schnell Platz geschaffen werden soll für neue Straßen und Gebäude. Weil die immer lauter werdenden Proteste nicht ins Bild des modernen Aserbaidschans passen, das die Regierung im Ausland vermitteln will, hat der Präsident nun Reformen angekündigt. First Lady Mehriban Aliyeva ist übrigens Chefin des ESC-Organisationskomitees.

16.000 Fans werden laut Europäischer Rundfunkunion das Finale des Sänger-Wettstreits bejubeln können - in der Arena "Crystal Hall", die gerade am Ende der Bucht von Baku gebaut wird. Viele mehr werden auf der Straße feiern. Doch ist die Stadt auf dieses Mega-Event vorbereitet? "Wir haben aktuell 8500 Zimmer in 104 Hotels. Vermutlich werden zwei Drittel von den Delegationen benötigt. Es gibt also Platz für Touristen", sagt Elchin Kadirov, der im ESC-Organisationskomitee verantwortlich für den Bereich Unterkunft und Transport ist. "Gäste können auch in Privatunterkünften unterkommen. Und wir werden noch Campingplätze bauen, im Norden und im Süden der Stadt."

Der 36-Jährige verspricht: "Wer nach Baku kommen möchte, um beim ESC mitzufeiern, wird nicht auf der Straße stehen." Die Direktive von oben ist klar: Beim Sommermärchen darf nichts schief gehen.

Tickets für den Eurovision Song Contest Ende Januar verkündeten die Organisatoren, dass Halbfinale (22. Mai und 24. Mai) und Finale (26. Mai) des Eurovision Song Contest in der Baku Crystal Hall stattfinden werden, die 16.000 Fans Platz bietet. Offizielles Datum für den Start des Ticketverkaufs ist der 28. Februar. Updates gibt es auf www.eurovision.tv.

Einreisebestimmungen Aserbaidschan Wer ein Ticket für den Eurovision Song Contest (ESC) ergattert, hat es einfach: Besucher mit Eintrittskarte erhalten ein Visum bei Ankunft am Flughafen von Baku (gilt im Zeitraum 10. Mai bis 1. Juni). Reisende ohne Ticket benötigen ein Visum, das vorab bei der Botschaft in Berlin beantragt werden muss (60 Euro, Tel. 030/20648063, www.botschaft-aserbaidschan.de). Anträge per Post sind nicht möglich; Abgabe des Passes persönlich oder per Visa-Agentur.

Für den Antrag benötigt man laut offizieller Botschafts-Homepage eine Einladung aus Aserbaidschan (vermittelt zum Beispiel Baku Travel Service, www.azerbaijan24.com). Das Honorarkonsulat in Stuttgart verlangt dagegen keine Einladung, sondern nur eine Bestätigung über eine Hotelreservierung sowie ein Hin- und Rückflugticket. Hier kostet das Visum (inklusive. Versand des Passes nach Berlin) 110 Euro. Tel. 0711/12848518, www.stuttgart-aserbaidschan.de.

Anreise Lufthansa steuert Baku ab Frankfurt direkt an. Umsteigeverbindungen ab anderen Flughäfen gibt es unter anderem mit Austrian Airlines via Wien, Turkish Airlines via Istanbul und Aeroflot via Moskau. Tickets kosten im Mai ab etwa 450 Euro.

Unterkunft Hotels sind teuer in Baku. Ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis bieten das Hyatt Regency und das benachbarte Park Hyatt. Beide Hotels liegen zentral zwischen Flughafen und Innenstadt. Zimmer kosten ab 170 Euro. Eine kostspielige Alternative ist das Four Seasons (Doppelzimmer ab 300 Euro). Wesentlich günstiger ist das Drei-Sterne-Hotel Noah's Ark in der Altstadt von Baku (DZ ab 90 Euro).

Da die Regierung alle Hotelzimmer für den kompletten Mai geblockt hat, ist eine Direktbuchung noch nicht möglich. Die Buchung für den Zeitraum des ESC soll zunächst zentral über www.eurovision.az abgewickelt werden. Ob die Zimmer für alle reichen, ist unklar. In der Umgebung von Baku sollen deshalb Campingplätze gebaut werden.

Informationen Ausgewogener als auf www.eurovision.az wird auf der Internetseite www.eurovision.de über die Vorbereitungen für den ESC berichtet. Über die Aktivitäten von Menschenrechtlern in Baku informiert www.singfordemocracy.org.


UPDATE: 21. Februar 2012


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20. Februar 2012 Montag 12:43 PM GMT+1 


Puritanismus, hilf


AUTOR: Jan Fleischhauer


RUBRIK: S.P.O.N. - DER SCHWARZE KANAL


LÄNGE: 871 Wörter



HIGHLIGHT: Das säkulare Deutschland achtet streng auf die Kirchenferne des Staates. Aber wenn es ernst wird, müssen doch die Männer Gottes nach vorn. Bei der Kandidatensuche für das Amt des Bundespräsidenten lag die Wahl am Ende zwischen Bischof Huber und Pastor Gauck.; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,816422,00.html


Glaubt wirklich jemand ernsthaft, dass Norbert Lammert abgesagt hätte, wenn ihm von der Kanzlerin das Amt des Bundespräsidenten angetragen worden wäre? Man konnte über das Wochenende lesen, der Bundestagspräsident habe auf der Stelle abgelehnt, Christian Wulff nachzufolgen. Respekt vor so viel Demut. Nur, wer soll ihm das Angebot eigentlich gemacht haben? Sigmar Gabriel? Renate Künast? Oder etwa der arme Klaus Ernst, der nicht einmal eingeladen war, an der Kandidatenfindung teilzunehmen?

Lammert hat unbestreitbar Eigenschaften, die ihn nicht nur für das zweit-, sondern auch für das allerhöchste Amt im Staate empfehlen. Das sieht er selber so, weshalb er schon im vergangenen Jahr ständig als eine Art Neben-Staatsoberhaupt agierte. Auch in der Kunst der wohlklingenden Ansprache, die als wichtigstes Werkzeug des Bundespräsidenten gilt, ist Lammert bestens bewandert. Ich kenne überhaupt niemanden in Berlin, der sich selber so gerne reden hört. 

Das Problem ist bloß, dass Angela Merkel von Menschen, die von sich selbst über alle Maßen eingenommen sind, eher weniger hält. Schon gar nicht will sie diese an einer Stelle wissen, wo sie sich jederzeit zu allem und jedem verbreiten können, ohne dass jemand auf die Uhr guckt. Insofern liegt man wohl nicht zu weit neben der Wahrheit, wenn man die Regierungskreise, die als Quelle für das Lammert-Gerücht genannt wurden, in großer Nähe zum Reichstag vermutet. Manchmal ist es besser, von sich aus abzusagen, statt als jemand zu gelten, der nie gefragt wurde.

Origineller Beitrag von den Sozialdemokraten

Zweieinhalb Tage dauerte nach dem Trauerspiel um Wulff der heitere Zwischenakt der Kandidatenkür. Mit der Einladung an die Opposition, sich an der Suche zu beteiligen, war die Zahl der potentiellen Nachfolger über Nacht sprunghaft gestiegen. Die Kanzlerin sprach von einem "iterativen Prozess", was aus der Mathematik kommt und bedeutet, sich schrittweise in Rechengängen der exakten Lösung zu nähern. Auf die Politik übertragen heißt das, sich nicht zu früh festzulegen, weil die ersten Namen diejenigen sind, die im Verfahren verbrannt werden. Anderseits sollte man auch nicht zu lange warten, sonst ist die Sache gelaufen, bevor man selbst zum Zug kommt.

Die Sozialdemokraten haben dem Vernehmen nach in der ersten Runde Margot Käßmann ins Spiel gebracht. Das war ein origineller Vorschlag, keine Frage. Die Frau kennt sich aus mit Rücktrittsverfahren. Im Gegensatz zu Wulff hat sie gezeigt, wie man aus einem karriereknickenden Fehltritt so viel moralisches Kapital schlägt, dass einem anschließend alles zugetraut wird, sogar der Umzug ins Schloss Bellevue. Da die Mehrheit der Bundesversammlung, die am Ende den Präsidenten wählt, immer noch der konservativ-liberalen Sache zuneigt, bestand allerdings wenig Aussicht, dass eine Frau das Amt übernimmt, die nach eigener Aussage die "präreflektierte Unmittelbarkeit" schätzt.

Ein Überschuss an Puritanismus kann nicht schaden

Die Kanzlerin konnte sich vieles vorstellen, wie es ihrer Art entspricht. Entscheidend war für sie, dass sie sich nicht wieder Sorgen machen musste, ob das Staatsoberhaupt bis zum Schluss durchhält. So lief alles zunächst auf den ehemaligen Bischof Wolfgang Huber zu, einen Mann der innerweltlichen Askese, der den moralischen Kompass fest in der Hand hält. Sicher, Huber sieht immer ein bisschen nach saurem Wein aus. Aber ist es nicht genau das, was wir jetzt brauchen? Nach den Eskapaden des Ehepaar Wulffs kann ein Überschuss an Puritanismus nicht schaden.

Am Ende ist es doch der ehemalige Pastor Joachim Gauck geworden. In der Stunde der Not müssen die Männer Gottes nach vorn, allen Beschwörungen, wie wichtig die Trennung von Staat und Kirche sei, zum Trotz. Gauck ist die ostdeutsche Variante des Kirchenmenschen, fröhlicher als sein baden-württembergischer Glaubensbruder, mehr Feldgottesdienst als Konklave, aber auch bei ihm darf man davon ausgehen, dass er sich in der Vergangenheit nicht von Einladungen der Marmeladenindustrie hat in Versuchung führen lassen. Oder bei seinen Urlauben in Wustrow auf Kosten anderer die Beine in die Ostsee gesteckt hat (dass in dieser Situation kein Katholik in Frage kam, versteht sich von selbst. Bei Vertretern dieser Konfession reichen drei Ave-Maria und alles ist vergeben und vergessen, das ist hochsympathisch, aber leider im Augenblick nicht ganz das Richtige).

Tribut an die närrische Zeit

Dass ausgerechnet Joachim Gauck bis heute als Kandidat von Rot-Grün gilt, ist eine der Ironien, die man auch als Tribut an die närrische Zeit verstehen kann. Nach einigen turbulenten Wochen haben wir demnächst also mit Hilfe von Claudia Roth und Sigmar Gabriel einen Bundespräsidenten, der die Antibanken-Bewegung, von der sich SPD und Grüne so viel versprechen, nur "unsäglich albern" findet und überhaupt die populäre Kritik an den Finanzmärkten für ziemlich naiv hält. Er habe in einem Land gelebt, "in dem die Banken besetzt waren", hat Gauck neulich süffisant angemerkt: Es sei zu bezweifeln, dass die Einlagen sicherer wären, wenn die Politiker in der Finanzwirtschaft das Sagen hätten.

Vielleicht sollte die SPD angesichts der neuen Entwicklung schon einmal über ihre Wahlkampfstrategie nachdenken: Dort spielt Occupy noch immer eine große Rolle.


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20. Februar 2012 Montag 8:29 AM GMT+1 


Mehrere Verletzte bei Demonstrationen


RUBRIK: GRIECHENLAND


LÄNGE: 726 Wörter



HIGHLIGHT: In Brüssel verhandeln die Euro-Finanzminister nach monatelangem Gezerre über die Freigabe des neuen Rettungspakets für Griechenland - kurz vor den Beratungen kam es in Athen erneut zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Mehrere Menschen wurden leicht verletzt.; http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,816309,00.html


Athen/Brüssel - Griechenland wartet auf das grüne Licht der Euro-Finanzminister für das neue Rettungspaket. Vor dem Treffen der Politiker in Brüssel haben in Athen erneut Tausende gegen die Sparbeschlüsse der griechischen Regierung demonstriert. Im Anschluss an eine Serie von Protesten kam es in der griechischen Hauptstadt zu Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Demonstranten. Nach Rundfunkberichten bewarfen Randalierer die Beamten mit Steinen. Daraufhin ließ die Polizei den Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlament räumen. Dabei wurden mehrere Demonstranten leicht verletzt.

Tausende hatten zuvor friedlich gegen die Regierung protestiert. Am Vormittag waren etwa 3000 Menschen einem Aufruf der Gewerkschaften zu einer Kundgebung im Zentrum Athens gefolgt. Anschließend hielten andere Organisationen weitere Kundgebungen ab. 

Die Euro-Finanzminister treffen sich am Montag in Brüssel - es geht um die Freigabe des mindestens 130 Milliarden Euro schweren Pakets, das Griechenland in letzter Minute vor der Staatspleite retten soll. Es ist auch Voraussetzung für die Einleitung des Schuldenschnitts mit privaten Gläubigern wie Banken und Versicherungen. Damit sollen Athens Schulden um rund 100 Milliarden Euro sinken.

Als Gegenleistung für neue Milliardenkredite muss Griechenland zahlreiche Auflagen erfüllen und eisern sparen. Zudem muss sich Athen einer schärferen Kontrolle unterwerfen. So wollen die Minister die Einrichtung eines Sperrkontos beschließen, auf den ein Teil der Staatseinnahmen fließen soll. Athen kann davon nur Kredite zurückzahlen, aber keine anderen Ausgaben tätigen. Damit gibt die Regierung faktisch einen Teil ihrer Haushaltssouveränität ab. Die Kassenhüter werden auch über weitere Maßnahmen für Athen beraten, um befürchtete neue Finanzierungslücken zu schließen.

Nach spiegel-Informationen hat die Troika aus EU, IWF und EZB die mangelnden Fortschritte Griechenlands beim Schuldenabbau gerügt. Immer mehr Euro-Partner zweifeln demnach an einem Erfolg der milliardenschweren Rettungsaktion - es wird für möglich gehalten, dass es beim Treffen der Euro-Gruppe zu keiner Einigung kommt. Dann könnte die Angelegenheit den Staats- und Regierungschefs für ihren Gipfel Anfang März überwiesen werden. Möglich sei aber auch, so ein Berliner Regierungs-Insider, dass schon an diesem Montag die Weichen für eine Pleite Griechenlands mit anschließendem Euro-Austritt gestellt würden. "Unter den Triple-A-Staaten ist die Skepsis besonders groß, ob Griechenland die Wende schaffen kann", bestätigte die österreichische Finanzministerin Maria Fekter. "Das Risiko einer Insolvenz Griechenlands ist nicht vom Tisch."

Damit würde der Ernstfall eintreten. Seit Wochen wird über eine Pleite Athens spekuliert. Doch bislang schrecken viele Regierungschefs der Euro-Zone vor diesem Szenario zurück. Sie fürchten, dass die Insolvenz einen Flächenbrand in der Währungsunion auslösen könnte. Dort kämpfen weitere Staaten wie Spanien, Portugal oder Italien mit hohen Staatsschulden.

Die Athener Regierung des parteilosen Ministerpräsidenten Loukas Papademos hat versprochen , in diesem Jahr mehr als drei Milliarden Euro einzusparen. Dazu sollen unter anderem die Renten und die Mindestlöhne gekürzt werden.

Der Finanzobmann der Unionsfraktion, Hans Michelbach, verlangte für das neue Griechenland-Hilfspaket die Einrichtung eines Sonderkontos und die Überführung der Staatsunternehmen in einen Privatisierungs-Treuhandfonds. "Es darf keinen Freibrief für Griechenland geben. Die Partner müssen ganz sicher sein, dass sich Athen auch über den Wahltermin hinaus penibel an alle Absprachen hält", sagte der Vorsitzende der CSU-Mittelstands-Union in Berlin vor dem Treffen der Euro-Finanzminister. Er fügte hinzu: "Unterschriften von zwei griechischen Parteivorsitzenden sind als zusätzliche Sicherheit auch mit Blick auf den Wahltermin absolut unzureichend." Michelbach schlug vor, Griechenland als Gegenleistung für die Übertragung des Staatsbesitzes in einen Treuhandfonds sofort eine erste Abschlagzahlung von 15 Milliarden Euro auf ein Sonderkonto zu überweisen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte am Freitag mit ihren Kollegen Loukas Papademos in Athen und Mario Monti in Rom telefoniert. Alle drei seien "zuversichtlich, dass die Finanzminister am Montag eine Lösung für die ausstehenden Fragen finden", hieß es im Anschluss.

anr/dpa/dapd


UPDATE: 20. Februar 2012


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19. Februar 2012 Sonntag 11:39 AM GMT+1 


Augen auf bei der Präsidentenwahl


AUTOR: Frank Überall


RUBRIK: POLIT-AFFÄREN


LÄNGE: 980 Wörter



HIGHLIGHT: Angestrengt suchen Regierung und Opposition nach einem Kandidaten für das höchste Staatsamt. Das Feld geeigneter Personen ist übersichtlich, die Anforderungen an berufliche Erfahrung, Charakter und Moral sind hoch. Ein Politiker-TÜV könnte helfen, die Spreu vom Weizen zu trennen.; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,816211,00.html


Die Affäre Wulff hat es gezeigt: Das Amt des Bundespräsidenten hält zahlreiche Stolperfallen bereit. Damit sich ein Rücktritts-Debakel nicht wiederholt, muss der neue Bewerber zum "Politiker-TÜV" - zumindest hinter den politischen Kulissen sollte das Leben des künftigen Staatsoberhaupts intensiv überprüft werden. Hier mögliche die Kriterien eines "Kandidaten-Knigge":

o "Sei kein Schnäppchenjäger!" 

Christian Wulff ist nicht als erster Politiker über freundschaftliche Einladungen gestolpert. Die Verführung lauert überall: Lothar Späth (CDU) trat als baden-württembergischer Ministerpräsident wegen einer "Traumschiff-Affäre" zurück, sein bayerischer Amtskollege Max Streibl (CSU) wegen einer Amigo-Affäre. Beide waren von "Freunden" aus der Wirtschaft eingeladen worden. Selbst in Wulffs Heimat Niedersachsen gab es schon einen Rücktritt wegen zu ausgeprägter "Nehmerqualitäten": Landeschef Gerhard Glogowski (SPD) hatte unter anderem seine Hochzeitsfeier großzügig von Brauereien, einer Kaffeerösterei und der Norddeutschen Landesbank sponsern lassen. Manchmal kommen Politiker aber auch mit einem "blauen Auge" davon: Kurt Biedenkopf (CDU, Sachsen) geriet durch eine Rabattforderung gegenüber dem Möbelhaus Ikea in die Schlagzeilen, Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) wegen einer Einladung zum Wiener Opernball.

o "Sei kein Gieriger!"

Viele Politiker fühlen sich chronisch unterbezahlt, deshalb suchen sie ein müheloses Zubrot. Nicht immer liegt der Fall so klar wie bei Laurenz Meyer. Der CDU-Generalsekretär musste seinen Posten aufgeben, weil er zu seiner Zeit als Landtagsabgeordneter in NRW noch einen Nebenverdienst hatte: Von einem Energieversorger soll er Geld und Gratis-Strom kassiert haben. Beliebt sind in der politischen Szene auch Beraterverträge als Tarnkappen der Korruption: Unternehmen oder Verbände zahlen viel Geld für angebliche Studien, Informationen oder Vorträge. Im Gegenzug erhoffen sie sich Gewogenheit bei politischen Entscheidungen. Für Präsidenten aber zählt Ausgewogenheit!

o "Sei kein Sauhund!"

Ein falsches "Ehrenwort" wie bei Uwe Barschel (CDU) oder auch unrichtige Angaben vor einem Untersuchungsausschuss wie beim früheren SPD-Bundesvorsitzenden Björn Engholm führen schnell ins politische Aus. Aber auch ein bayerisch-augenzwinkernes "Sauhund-Image" ist im Präsidentenamt kaum hilfreich. Franz-Josef Strauß (CDU), Joschka Fischer (Grüne) oder Oskar Lafontaine (Linke) konnten so manchen Sturm überstehen, weil sie gar nicht erst als politisch-korrekte Saubermänner galten. Präsidenten brauchen aber ein uneingeschränkt positives Image!

o "Sei kein Spendentrickser!"

Reinhard Klimmt (SPD) demissionierte als Bundesverkehrsminister, weil er sich zuvor als Ministerpräsident im Saarland für Spenden an einen Fußballverein eingesetzt haben soll - bei einer Firma, die Aufträge vom Land bekam. Im Kölner Müll- und Spendenskandal sowie in der Schwarzgeld-Affäre der CDU um Bundeskanzler Helmut Kohl flossen dubiose Gelder in die Parteikassen. Auch wenn solche Deals nicht immer strafbar sind, sollte ein Präsident seine Finger stets von "schmutzigen Spenden" ferngehalten haben!

o "Sei kein Filou!"

Vorwürfe sexueller Belästigung oder Telefonsex auf Steuerzahlerkosten über den Apparat des Abgeordnetenbüros: Die Gründe für Rücktritte gehen manchmal tief ins Privatleben. Auch wenn ein traditionell geordnetes Familienleben kaum noch ein Kriterium für die Kandidatenauswahl sein dürfte, sollten derbe Grenzverletzungen im Leben eines Staatsoberhaupts keine Rolle gespielt haben!

o "Sei kein Unverantwortlicher!"

"Dafür war ich nicht zuständig", hört man gern in Behördenkreisen. Minister kommen damit aber meist nicht weit. Sie haben eine Organisationsverantwortung im Amt. Wenn sie selbst keinen Fehler gemacht haben, können sie trotzdem mächtig unter Druck geraten. Duisburgs abgewählter OB Adolf Sauerland ist dafür genauso ein Beispiel wie Ex-Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU), der nach dem Anti-Terroreinsatz von Bad Kleinen freiwillig die Verantwortung übernahm. Amtsfehler sollte ein Präsident nicht begangen oder sie zumindest anständig aufgeklärt haben!

o "Sei kein Politik-Verwirrter!"

Ein häufiger Rücktrittsgrund in der Geschichte der Bundesrepublik ist nahezu Geschichte: Verstrickungen ins NS-Regime. Aber auch die Zusammenarbeit mit der Stasi oder obskuren Organisationen wie extremistischen Parteien oder religiösen Fanatikern ist ein Ausschlusskriterium auf dem Weg zum Staatsoberhaupt!

o "Sei kein Sprach-Verirrter!"

George W. Bush mit Adolf Hitler zu vergleichen, bekam der Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) nicht gut: Die öffentliche Empörung war groß, sie verlor ihr Amt. Ein Präsident muss mit Worten umgehen können und darf nicht "daneben greifen". Auch nicht, wenn er sich schriftlich äußert - wie Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), der Teile seiner Doktorarbeit abgeschrieben hatte. Ein Präsident muss wortgewaltig sein, aber darf den Worten keine Gewalt antun!

o "Sei kein Abhängiger!"

Natürlich darf ein Politiker Freunde haben, auch als Staatsoberhaupt. Aber er muss immer klare Grenzen gezogen haben und ziehen: Selbst der Anschein einer Vermengung privater und dienstlicher Interessen hindert am Einzug ins Schloss Bellevue. Und überhaupt, der Bundespräsident braucht das alles auch gar nicht: Er arbeitet Vollzeit. Einen anderen Job nebenher auszuüben ist ihm ausdrücklich verboten. Er braucht sich dank Ehrensold-Versprechen nach dem Ausscheiden aus dem Amt auch nicht um die finanzielle Zukunft zu sorgen!

Der "Kandidaten-Knigge" - ohne Anspruch auf verbindliche Vollständigkeit - sollte vor der Wahl des Kandidaten nicht öffentlich, aber aufrichtig abgearbeitet werden. Die verbleibenden Tage dafür sind kurz, aber es ist notwendig. Wer auch immer die Aufgabe übernimmt, sollte dabei penibel sein: Denn eine weitere Affäre würde das höchste Amt im deutschen Staat nun wirklich der Lächerlichkeit preisgeben.


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19. Februar 2012 Sonntag 9:50 AM GMT+1 


"Ich werde dich töten"


AUTOR: Tim Röhn


RUBRIK: SKANDAL NACH KLITSCHKO-SIEG


LÄNGE: 681 Wörter



HIGHLIGHT: Es war ein hartes Stück Arbeit: Vitali Klitschko hat seinen WM-Titel gegen Dereck Chisora erfolgreich verteidigt. Der Erfolg wurde von einer wüsten Prügelei und heftigen Beschimpfungen zwischen Chisora und David Haye auf der Pressekonferenz überschattet.; http://www.spiegel.de/sport/sonst/0,1518,816200,00.html


"Vor dem Sportler Dereck Chisora habe ich Respekt", sagte Vitali Klitschko, "aber nicht vor dem Menschen." Auch im Moment des Triumphs konnte er Chisoras Entgleisungen vor dem Fight nicht vergessen und bot ihm einen Rückkampf an. "Ich habe ihn diesmal nicht K.o. geschlagen, aber er wird seine Rechnung bezahlen müssen", kündigte Klitschko auf der Pressekonferenz an, die in einem Eklat endete.

Der britische Ex-Weltmeister David Haye, den Wladimir Klitschko im Juli 2011 bezwungen hatte und der als TV-Experte in München war, und Chisora gingen nach einem Wortgefecht aufeinander los, prügelten sich heftig und rannten durch den Saal. Auch Trainer und Betreuer beider Boxer mischten vor den Augen der Klitschko-Brüder und mehr als 100 anwesenden Journalisten kräftig mit. Haye-Coach Adam Booth trug eine Schnittwunde am Kopf davon, die Polizei wurde alarmiert und nahm Ermittlungen auf. 

Auslöser war, dass Chisoras Manager Frank Warren Haye aufgefordert hatte, gegen Chisora zu boxen. Der Sieger würde dann gegen Vitali Klitschko kämpfen dürfen. Haye entgegnete: "Du hast drei Mal verloren, du bist ein Loser." Chisora sprang auf und stürmte seinem Landsmann entgegen, dann kam es zur Schlägerei, bei der auch Flaschen und Stative flogen. Nach rund zwei Minuten konnten die Boxer getrennt werden, Haye stürmte aus dem Raum, Chisora konnte sich nicht beruhigen und rief Haye hinterher: "Ich werde dich töten, ich werde dich erschießen, ich werde dich verbrennen!"

"Ich bin schockiert, so etwas habe ich noch nie erlebt", sagte Klitschko-Manager Bernd Bönte zu spiegel ONLINE, "solche Szenen kenne ich nur aus den Fankurven von einigen englischen Fußballclubs. Chisora ist echt krank." Allein trug der die Schuld an der Eskalation aber nicht.

Chisora überraschte die Experten

Schon vor dem Kampf war Chisora auffällig geworden. Der Engländer hatte Klitschko beim Wiegen eine Ohrfeige verpasst("Ich hatte es meiner Mutter versprochen"), kam 15 Minuten verspätet aus der Kabine und spuckte Wladimir Klitschko unmittelbar vor dem Fight Wasser ins Gesicht. Aber der Herausforderer sorgte auch dafür, dass den Zuschauern neben einer großen Show im Vorfeld auch ein sportliches Spektakel geboten wurde.

Im Ring ließ er nämlich Taten folgen und präsentierte sich als fast ebenbürtiger Gegner. Damit hatten Experten angesichts der bis dato mäßigen Kampfstatistik (17 Kämpfe, 15 Siege, zwei Niederlagen) und Chisoras Unerfahrenheit auf Weltklasse-Niveau nicht gerechnet.

Zwischenzeitlich wirkte es so, als könne Chisora tatsächlich die Sensation schaffen. Vor allem in den Runden fünf und sechs brachte er seine Schläge ins Ziel. Mit zunehmender Kampfdauer stellte sich Klitschko aber immer besser auf seinen Gegner ein und verhinderte weitere Treffer. "Ich habe ein paar Wischer abbekommen", spielte er die Leistung Chisoras hinterher hinunter.

Klitschkos schwierigster Kampf seit dem Comeback

Allerdings hatte sich der Weltmeister in dem Kampf auch verletzt: "Wegen starker Schmerzen im linken Arm konnte ich ab der fünften Runde nur noch mit der rechten Hand boxen. Und die Linke ist normalerweise mein Schlüssel."

Welche Art von Verletzung der 40-jährige Ukrainer erlitten hat, darüber soll am Sonntag eine Kernspintomographie Aufschluss geben. Schon davor liefert Klitschkos Handicap - sofern die Aussagen denn der Wahrheit entsprechen - eine von mehreren Erklärungen für die Probleme, die der WBC-Champion mit seinem zwölf Jahre jüngeren Gegner hatte.

Zwar feierte Klitschko in der Münchner Olympiahalle seinen 44. Sieg im 46. Profikampf, er gewann einstimmig nach Punkten (118:110, 118:110, 119:111). Aber glänzen konnte er dabei nicht. "Ich bin ein bisschen enttäuscht", sagte der Weltmeister, "es war ein deutlicher Sieg, aber ich wollte ihn ausknocken."

Davon war er weit entfernt, dieser Kampf war für ihn wohl der schwierigste seit seinem Comeback im Jahr 2008. Chisora war über zwölf Runden der aktivere Boxer und ging stets nach vorne. Während Klitschko vor allem darauf bedacht war, die Kontrolle zu behalten, sorgte der Brite mit überfallartigen Attacken immer wieder für Überraschungsmomente.


UPDATE: 19. Februar 2012


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19. Februar 2012 Sonntag 7:46 AM GMT+1 


Die Zeit der Hinterzimmer-Deals ist vorbei


AUTOR: Gerd Langguth


RUBRIK: KANDIDATEN-SUCHE


LÄNGE: 874 Wörter



HIGHLIGHT: Scheitern als Chance: Angela Merkel macht den dritten Versuch, einen geeigneten Kandidaten für das höchste Staatsamt zu finden. Diesmal kommt es darauf an, die Opposition klug einzubinden. Wenn die Kanzlerin alles richtig macht, könnte sie sogar gestärkt aus dem Präsidentendebakel hervorgehen.; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,816160,00.html


Dass Angela Merkel bei der Auswahl der Bundespräsidenten ein glückliches Händchen bewiesen hätte, werden nicht einmal ihre glühendsten Anhänger behaupten wollen. So schickte sie 2004 mit Horst Köhler, dem damaligen Generaldirektor beim Internationalen Währungsfonds, einen hochqualifizierten Beamten ins Rennen. Der erwies sich jedoch als glatte Fehlbesetzung. Er tappte im Dickicht der Innenpolitik herum und schmiss nach seinen Einlassungen zur Afghanistan-Politik das Amt entnervt hin. Christian Wulff, Merkels zweiter Kandidat, holte schließlich seine Vergangenheit als niedersächsischer Ministerpräsident ein.

Wulffs Rücktritt kam quasi in letzter Minute, andernfalls wäre der Vorsprung der schwarz-gelben Regierungskoalition in der Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten noch dünner geworden. Am 25. März wird im Saarland ein neuer Landtag gewählt - die Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten soll wohl am 17. März sein. 

Nun hat Merkel versprochen, die Opposition mit Ausnahme der Linkspartei in die Suche nach einem Wulff-Nachfolger einzubeziehen. Doch wird es wirklich gelingen, einen Konsens-Kandidaten zu benennen?

Zumindest müsste Merkel in diesem Fall darauf verzichten, nur einen Präsidenten zu unterstützen, der ihr nicht gefährlich werden kann. Christian Wulff wurde von ihr ja auch deshalb ins goldene Gefängnis des Schloss Bellevue hineingehievt, weil sie damit einen wichtigen innerparteilichen Konkurrenten loswerden konnte. Das Kalkül ging auf: Wenn man die Ereignisse des Jahres 2011 sieht - insbesondere die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und die Kehrtwende in der Energiepolitik -, dann hätte es seinerzeit viel Grund zu Missmut in der Union gegeben. Doch dieser Missmut wurde nicht artikuliert, weil es keinen Anführer gab, der einen Putsch gegen Merkel hätte anführen können.

Andererseits ist Merkels Angebot, die Opposition in die Präsidentensuche einzubinden, ein geschickter Schachzug. Von einem überzeugenden neuen Kandidaten würde zwar auch die Opposition profitieren, der größere Anteil des Verdiensts aber würde der Kanzlerin zugesprochen. Zugleich taugt die gemeinsame Kandidatensuche als Lockerungsübung. Mit ihr wird indirekt auch die nächste Koalitionsfrage gestellt - oder vielleicht sogar beantwortet. Zurecht betrachtet die FDP das Angebot der Kanzlerin an die Opposition argwöhnisch. Die Liberalen vermuten, dass Merkel einen Deal mit den Oppositionsparteien machen möchte.

Mit der Suche nach einem neuen Bundespräsidenten hat in der Tat so etwas wie ein Vorwahlkampf für die nächsten Bundestagswahlen im Herbst 2013 begonnen. Wenn es Merkel nämlich gelingt, die Oppositionsparteien schon jetzt in die Kandidatensuche einzubinden, hat sie eindeutig einen strategischen Vorteil, weil dann der neue Bundespräsident besser zu einer neuen Regierungskoalition passt. Zum Schluss könnte Merkel so aus ihrer schwierigen Situation sogar noch einen Vorteil herausschlagen.

In dem Moment, in dem eine gemeinsame Lösung gefunden wird, dürfte auch das angeblich ramponierte Image des höchsten Staatsamtes wiederhergestellt sein. Die Deutschen lieben ihre Präsidenten. Auch Christian Wulff hatte in den Anfangsmonaten seiner Präsidentschaft hohe Zustimmungswerte. Das dürfte auch dem Nachfolger gelingen, sofern er oder sie folgende Voraussetzungen erfüllt:

Der Bundespräsident ist so etwas wie ein Staatsnotar der Bundesrepublik, er unterzeichnet alle Gesetze. Daneben erfüllt er jedoch auch eine wichtige Reservefunktion bei schwierigen Regierungsbildungen oder im Fall einer vorzeitigen Auflösung des Bundestages. Der Bundespräsident ist ferner oberster Repräsentant der Bundesrepublik und vertritt Deutschland nach außen. Er muss trittsicher sein auf dem internationalen Parkett. der Bundespräsident fungiert schließlich als so etwas wie der intellektuelle Stichwortgeber der Republik. Die Autorität seines Amtes beruht vor allem auf der Macht des Wortes.

Ob es allerdings wirklich gelingt, mit der Opposition einen überparteilichen oder unparteiischen Kandidaten zu finden, ist höchst fraglich, da die Interessen von Opposition und Regierungsparteien weit auseinanderliegen.

Wer also könnte die Wulff-Nachfolge antreten?

Die große Frage ist zunächst, ob Joachim Gauck als Kandidat wiederkommen wird. Zwar haben sich SPD und Grüne formal hinter Gauck gestellt, doch gilt er insbesondere vielen Grünen inzwischen als zu konservativ und vielen SPD-Abgeordneten als zu pastoral. Würde Gauck aber das Rennen machen, wäre dies auch ein Beleg dafür, dass die Aufstellung von Wulff eine Fehlentscheidung war. Das wird die Kanzlerin nicht als Bild im Raum stehen lassen.

Neben Gauck werden derzeit viele Namen genannt, sogar die wegen Alkohols am Steuer überführte ehemalige Landesbischöfin Margot Käßmann oder die Grünen-Abgeordnete Katrin Görig-Eckardt, stellvertretende Bundestagspräsidentin und aktiv in der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Doch zwei ostdeutsche Protestantinnen an der Staatsspitze - die Pfarrerstochter Merkel und Katrin Göring-Eckart? Außerdem wird noch der Kirchenmann und Ex-Bischof Wolfgang Huber genannt.

Fest steht: Es muss ein Kandidat her, der integrationsfähig ist. Merkel kann die "P-Frage" nicht mehr im Hinterzimmer mit ihrem Wunschkandidaten alleine ausmachen.


UPDATE: 19. Februar 2012


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18. Februar 2012 Samstag 8:18 PM GMT+1 


Merkels heikle Mission Blitzkür


AUTOR: Severin Weiland


RUBRIK: NÄCHSTER BUNDESPRÄSIDENT


LÄNGE: 1059 Wörter



HIGHLIGHT: Schwarz-Gelb drückt bei der Suche nach einem neuen Bundespräsidenten aufs Tempo, doch die Kandidatenkür stockt: Zwei Top-Anwärter haben bereits abgesagt, und die Opposition stellt Bedingungen. Im Gespräch ist nun der frühere Bischof Huber.; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,816166,00.html


Berlin - Die kommende Woche ist das Fest der Narren. Rosenmontag, Faschingsdienstag, Aschermittwoch. Und gleich zu Beginn findet in der Euro-Krise noch ein wichtiges Treffen der Finanzminister zu Griechenland statt. Keine gute Woche, um weiter über einen Nachfolger im höchsten Staatsamt zu räsonieren und neue Namen durch die Medien zu jagen. "Es bleibt unser Ziel, wenn möglich, am Sonntag zum Abschluss zu kommen", heißt es denn auch aus der Koalition.

Und so wird nicht ausgeschlossen, dass es am Sonntagabend zu einem Treffen Angela Merkels mit den Parteichefs und womöglich auch den Fraktionsvorsitzenden der fünf Parteien im Kanzleramt kommt. Eine Hängepartie um die Nachfolge im höchsten Staatsamt soll nach dem Rücktritt von Christian Wulff vermieden werden. So lautet der Plan in der CDU/CSU/FDP-Koalition. Und so will es offenkundig auch die Opposition aus SPD und Grünen. Grünen-Fraktionschefin Renate Künast nannte die Suche nach einem neuen Bundespräsidenten "stilbildend". 

Diesmal soll alles anders sein als im Sommer 2010, als Angela Merkel keinen gemeinsamen Kandidaten wollte und das Angebot der SPD und Grünen, Joachim Gauck zu wählen, ablehnte. Diesmal hat die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende den beiden Oppositionsparteien versprochen, einen gemeinsamen Kandidaten zu suchen und der Bundesversammlung vorzuschlagen. Zwar gab es manches parteipolitisches Geplänkel - aber in der Sache sind beide Seiten bemüht voranzukommen.

Voßkuhle will nicht

Zwei Namen allerdings schieden schon im Verlaufe des Samstags aus: Andreas Voßkuhle, Verfassungsgerichtspräsident, sagte ab. Und ebenso tat es Bundestagspräsident Norbert Lammert. Somit blieb auf der Liste der Koalition vor allem ein Name: der von Wolfgang Huber. Läuft es also am Ende auf den früheren Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und einstigen Bischofs der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und schlesische Oberlausitz zu? Es gebe auch noch weitere Namen, wurde in Koalitionskreisen am Samstag gestreut. Also doch noch ein weiterer Überraschungsname? Oder bloße Taktik, um abzulenken? Auf einer CSU-Präsidiumssitzung in München fiel am Samstag neben Huber auch der Name von Petra Roth, langjährige und über die Parteigrenzen anerkannte CDU-Oberbürgermeisterin von Frankfurt am Main. Sie will im Juli aus ihrem Amt ausscheiden.

Klar ist: Die Sache ist noch längst nicht ausgestanden. Doch der Kreis der möglichen Kandidaten hat sich in den vergangenen 48 Stunden rasch gelichtet, nachdem SPD und Grüne - die Kanzlerin ließ die Linkspartei bei der Suche außen vor - klar gemacht hatten, keinen aktiven Minister aus dem Kabinett wählen zu wollen. Und auch die FDP hatte sich gegen CDU-Mann Klaus Töpfer ausgesprochen. Der einstige Bundesumweltminister gilt den Liberalen als Signal für Schwarz-Grün.

So schien zunächst der 48-jährige Jurist Voßkuhle für manche in der Koalition der geeignete überparteiliche Kandidat: jung, eloquent - vor allem aber ein Mann, den Rot-Grün hätte mittragen können. Schließlich war er, ohne parteilich gebunden zu sein, auf Vorschlag der SPD auch mit den Stimmen von Union und FDP ins höchste Richteramt gewählt worden. Doch Voßkuhle, einer breiten Öffentlichkeit unbekannt, brachte sich am Samstagnachmittag aus dem Spiel. Stunden später wurde dann in Koalitionskreisen bestätigt: Auch Norbert Lammert, dessen Name zuvor in der Koalition genannt worden war, stehe nicht zur Verfügung.

Schon zuvor war spekuliert worden, ob der Christdemokrat im eigenen Lager überhaupt genügend Unterstützung finden würde. Denn Lammert hat sich in der Euro-Krise wiederholt kritisch über den Kurs der Kanzlerin geäußert, manche halten ihn auch für zu eitel und selbstgefällig. Wenngleich er wegen der Stärkung der Parlamentsrechte bei den Eurohilfen durchaus auch über die Parteigrenzen hinweg Anerkennung findet. Der Christdemokrat wäre wohl ein zu starkes Gegengewicht zu Merkel im Schloss Bellevue - ein politischer Präsident mit ausgeprägten eigenen Vorstellungen, zudem ein Mann, der das Wort führen kann. Doch auch bei der Opposition schien Lammert am Ende nicht auf Gegenliebe zu stoßen - und zwar aus prinzipiellen Erwägungen. SPD-Parteichef Sigmar Gabriel erklärte am Samstag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, dem Grünen-Parteichef Cem Özdemir und der Fraktionsvorsitzenden Renate Künast, der Kandidat sollte kein aktives Kabinettsmitglied und "nach Möglichkeit" auch kein "aktives Mitglied einer Partei" sein.

Hubers Vorteil und Nachteil

Kommt am Ende also ein Theologe ins Schloss Bellevue? Der streitbare Christ Huber hat zumindest einen Vorteil - er könnte auch für Schwarz-Gelb in der Bundesversammlung wählbar sein. Ihm wird zwar eine Nähe zur SPD unterstellt, aber er liegt auf vielen Gebieten nicht mit der Partei - und den Grünen - auf einer Linie. Im Streit um den Religionsunterricht an Berliner Schulen hatte er sich an der Seite der CDU dafür eingesetzt, dass neben Ethik auch Religion als Wahlpflichtfach angeboten werden sollte - ein Vorstoß, der bei einer Volksabstimmung durchfiel. Die damalige rot-rote Koalition und auch die Grünen in der Hauptstadt hatten sich gegen Huber und Co. gestellt. Wiederholt hat sich Huber auch kritisch in den christlich-islamischen Dialog eingeschaltet und vor einem "Kuscheldialog" gewarnt. Dass er reden kann, hat er hinlänglich bewiesen, seine Predigten genossen Kultcharakter. Sein Nachteil, finden manche bei Schwarz-Gelb, ist seine Schwäche in den aktuellen Krisenthemen Wirtschaft und Finanzen.

Doch ist das ein Hinderungsgrund? Ein Bundespräsident muss Generalist im besten Sinne sein - Huber, der sich derzeit auf einem Forschungsaufenthalt in Südafrika befindet, wäre das allemal.

Wie im Übrigen auch Joachim Gauck, den SPD-Chef Gabriel am Samstag als "unseren Favoriten" vorstellte. Doch Rot-Grün weiß, dass der frühere Kandidat für das höchste Amt im schwarz-gelben Lager auf Vorbehalte stoßen wird. Gauck wäre der Beweis, dass sich Merkel vor 19 Monaten geirrt hat, als sie Wulff durchsetzte. Kaum jemand glaubt daher, dass Angela Merkel im Falle Gauck handelt wie einst nach dem Atomunfall in Fukushima. Damals schmiss sie entschlossen ihr Energiekonzept um und schwor Schwarz-Gelb auf den Ausstieg aus der Atomenergie ein. Eine solche Volte im Fall Gauck, heißt es in der Koalition, könne man sich nur schwerlich vorstellen.


UPDATE: 19. Februar 2012


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18. Februar 2012


Das schlechte Gewissen


AUTOR: Mingels, Guido


RUBRIK: GESELLSCHAFT; S. 67 Ausg. 8


LÄNGE: 803 Wörter



HIGHLIGHT: Ortstermin: In Köln plädiert ein Pfarrer für die Rehabilitation einer angeblichen Hexe

ORTSTERMIN: In Köln wird eine angebliche Hexe rehabilitiert.


Vor dem Raum Nr. A-119 im ersten Stock des Kölner Rathauses warten drei ältere Herren auf Einlass. Zwei von ihnen sind Urururururururur-urururururgroßneffen einer Hexe. Der dritte, Hartmut Hegeler, ist eine Art Hexen-Lobbyist.

Innen tagt seit Stunden der vielköpfige Ausschuss für Anregungen und Beschwerden des Stadtrats von Köln. Doch er ist noch immer nicht bei Punkt 3.4. der Traktandenliste angekommen, der Petition zur "Rehabilitation der Katharina Henot und anderer Opfer der Hexen-Prozesse in Köln", eingebracht durch den Petent Hegeler, Hartmut. Derzeit diskutiert die Runde erbittert über den Punkt 3.1., das Bebauungskonzept für den Spielplatz "Räuberwäldchen" in Köln-Sülz, und auch der Bürgerantrag zur besseren Straßenentwässerung beim Südfriedhof wird Anlass zum Reden geben. Zu besichtigen ist leidenschaftliche Lokaldemokratie. Vor der Tür bittet derweil eine Hilfskraft der Verwaltung die Antragsteller im Vorraum um Verzeihung für das lange Warten, worauf Hartmut Hegeler großzügig sagt, die Hexen-Prozesse seien ja nun bald 400 Jahre her, "da kommt es auf die paar Minuten nicht an". 

Katharina Henot wurde am 19. Mai 1627 in Köln-Melaten erdrosselt und verbrannt, weil sie eine Raupenplage über ein Kloster gebracht, ein Kind totgezaubert, Rutengängerei betrieben und nichtehelichen Umgang mit ein paar Grafen gehabt hat. Es gab dafür allerdings keine Beweise. Und die einzige Belastungszeugin war eine ihrerseits vom Teufel besessene Nonne. Auch ein Geständnis wollte die Angeklagte trotz intensiver Folter nicht ablegen.

"Die Katharina war eine standkräftige Frau", sagt Hanns Joachim Hirtz, Nachfahre in 15. Generation, ebenso wie Karl-Josef Münch, der gerade einer Lokalreporterin in den Notizblock diktiert, dass seit dem damaligen Justizmord ein "Damoklesschwert" über der Familie hänge, dann aber sagt, "streichen Sie das mit dem Schwert, das passt nicht". Münch ist gewesener Bundeswehr-Oberstleutnant, sein Hobby ist die Familienforschung. Er erzählt, dass auch der BAP-Sänger Wolfgang Niedecken kürzlich entdeckt habe, dass er von einer verbrannten Hexe abstamme. Mitunterzeichnet wurde die Petition übrigens von der Kölner Mundartgruppe Bläck Fööss, die mal ein Lied zum Thema gedichtet hat: "Salve Katharina in memoriam / du bes für uns die Königin / Salve, Salve Regina Katharina / du läävs en unserm Hätze dren."

Man könnte das alles für einen raffinierten Karnevalsscherz halten, draußen vor dem Dom stehen ja schon die Jecken rum, bald ist Rosenmontag. Fast hofft man, dass Hartmut Hegeler, pensionierter Pfarrer und Religionslehrer aus Unna, der nun endlich vor den Ausschuss treten darf, um sein Plädoyer zu halten, gleich eine alberne Mütze auf den Kopf setzt und "Alaaf! Alaaf!" ruft.

Tut er aber nicht. Die Sache ist ihm ernst. Und dass es in Köln bereits eine Katharina-Henot-Straße, eine Katharina-Henoth-Schule und eine Katharina-Henot-Statue am Rathausturm gibt, genügt ihm nicht. Zwar will er keine juristische Rehabilitation und stellt keine Geldforderungen, aber er möchte, dass Politik und Kirche offizielle Sätze sagen, die mit "Wir bedauern, dass" beginnen.

Hegeler hat die Wiederherstellung der Hexen-Ehre zu seiner Mission gemacht, seit zehn Jahren publiziert er Bücher zum Thema, hält Vorträge, gründet Arbeitskreise. Der dynamische 65-Jährige ist ein wandelndes Argument für die Erhöhung des Rentenalters. Doch statt Religionsschüler unterrichtet er jetzt Politiker, und damit seine Botschaft ankommt, zieht er Parallelen bis in die Gegenwart: "Hexen waren Sündenböcke, das ist auch heute bei den Mobbing-Opfern noch ähnlich."

Schon 13 Gemeinden in Deutschland haben inzwischen laut Hegeler die Opfer von Hexen-Prozessen rehabilitiert, viele weitere arbeiten daran. Man darf von einem eigentlichen Trend sprechen. In Wiesbaden hat sich die Fraktion Linke&Piraten für die Hexen ins Zeug gelegt und darauf hingewiesen, dass noch heute "bekanntlich jede vierte Frau in Deutschland Opfer häuslicher Gewalt wird". Im Düsseldorfer Rat gab es eine Schweigeminute, die von der CDU-Fraktion mit der Begründung boykottiert wurde, das Hexen-Gedenken sei ungerecht "jenen gegenüber, denen in anderen Jahrhunderten Unrecht geschah". Richtig, da wären ja etwa noch die von der Inquisition hingerichteten Ketzer. Oder die von den Germanen grundlos versklavten Kelten. Es gibt bestimmt viele unentdeckte Opfergruppen. Nicht, dass Deutschland irgendwann das schlechte Gewissen ausgeht.

"Das Unrecht darf nicht das letzte Wort haben", ruft Hegeler zum Schluss in den Saal. Der Ausschuss entscheidet beinahe diskussionslos und einstimmig, den Antrag Nr. 02-1600-87/11 gutzuheißen. Kostet ja nichts. Außerdem will man endlich zum Punkt 3.5. der Tagesordnung kommen, der mehr Zunder verspricht: Es geht um die Vergabe der Standplätze für die Maronenverkäufer in der Innenstadt durch Losentscheid.


UPDATE: 18. Februar 2012


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


GRAFIK: Antragsteller Hegeler: Hexen als Mobbing-Opfer


PUBLICATION-TYPE: Zeitung


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Der Spiegel


18. Februar 2012


"Wir sind ineinander verkeilt"


RUBRIK: AUSLAND; SPIEGEL-GESPRÄCH; S. 98 Ausg. 8


LÄNGE: 2355 Wörter



HIGHLIGHT: Nahost: SPIEGEL-Gespräch mit dem Palästinenser Sari Nusseibeh über das Scheitern der Zwei-Staaten-Lösung und den Einfluss der Radikalen im Heiligen Land

Der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh hält die Zwei-Staaten-Lösung für überholt, plädiert für einen israelisch-palästinensischen Bundesstaat, misstraut aber den gemäßigten Signalen der radikalen Hamas.


Nusseibeh, 63, ist einer der profiliertesten palästinensischen Intellektuellen. Er hat an den Universitäten Harvard und Oxford studiert, war PLO-Vertreter für Ost-Jerusalem und einer der Anführer der ersten Intifada. Seit 1995 ist er Präsident der arabischen Al-Kuds-Universität in Jerusalem. Seine Vorfahren zählten zu den ersten Muslimen, die vor über tausend Jahren in die Heilige Stadt kamen. Seitdem hütet die Familie den Schlüssel der christlichen Grabeskirche: Jeden Tag öffnet und schließt ein Nusseibeh das Kirchentor.

SPIEGEL: Herr Nusseibeh, in Ihrem neuen Buch behaupten Sie, es sei zu spät für einen palästinensischen Staat(*). Warum?

Nusseibeh: Sie sitzen hier in meinem Büro in Beit Hanina, an einem Ort, der Ost-Jerusalem genannt wird. Schauen Sie nach Westen. Da sehen Sie Teile des arabischen Viertels, die durch die Mauer abgetrennt sind. Schauen Sie nach Osten, da sehen Sie Pisgat Seev, eine riesige israelische Siedlung. Noch weiter östlich liegt die Siedlung Maale Adumim. Ost-Jerusalem gibt es eigentlich gar nicht mehr. Aber ein palästinensischer Staat ohne Ost-Jerusalem als Hauptstadt ist undenkbar. 

SPIEGEL: Sie wollen die Grenzen von 1967 aufgeben, die Grundlage aller Friedenspläne waren?

Nusseibeh: Selbst für die Kreativsten unter uns ist es schwer, sich vorzustellen, wie man die Grenzen ziehen sollte, damit Ost-Jerusalem unsere Hauptstadt werden kann. Und dann sind da die israelischen Siedler. Kann man eine halbe Million Menschen einfach so wieder entfernen? Nein, das geht nicht. Nichts ist unmöglich, mathematisch gesprochen. Aber wir reden über Politik, und da ist nicht immer alles möglich.

SPIEGEL: Wir sollten uns also eingestehen, dass die Zwei-Staaten-Lösung tot ist?

Nusseibeh: Mathematisch gesehen ist die Zwei-Staaten-Lösung exzellent. Sie er-

zeugt ein Minimum an Schmerz und wird von einer Mehrheit auf beiden Seiten akzeptiert. Genau deshalb hätten wir sie schon vor langer Zeit umsetzen sollen. Aber wir haben es nicht hingekriegt.

SPIEGEL: Wer ist daran schuld?

Nusseibeh: Israel hat lange gebraucht, um anzuerkennen, dass es ein palästinensisches Volk gibt. Wir Palästinenser haben lange gebraucht, um Israel als Staat zu akzeptieren. Aber die Geschichte ist schneller, als es die Ideen sind. Als die Welt aufwachte und erkannte, dass zwei Staaten die beste Lösung sind, lebten schon Hunderttausende Israelis jenseits der Grünen Linie. Inzwischen wächst der Fanatismus auf beiden Seiten. Das Streben nach einer Zwei-Staaten-Lösung ist eine Phantasie.

SPIEGEL: Welche Alternativen gibt es?

Nusseibeh: Es kommt am Ende nicht so sehr auf die Form an. Wichtig ist, dass beide Seiten sich darauf einigen können und die Grundprinzipien von Gleichheit und Freiheit erfüllt sind. Ich halte vieles für denkbar: einen, zwei oder drei Staaten, einen föderalen Zusammenschluss oder einen Staatenbund.

SPIEGEL: In Ihrem Buch schreiben Sie, die Palästinenser sollten in einem solchen gemeinsamen Staat zivile Rechte erhalten, keine politischen: "Die Juden könnten aber das Land regieren und die Palästinenser das Leben darin genießen." Würde das funktionieren?

Nusseibeh: Ja, als Übergangslösung. Seit Beginn der Besatzung 1967 hat man uns unsere Grundrechte verweigert. Seit 20 Jahren wird uns versprochen, dass die Gründung eines eigenen Staats bevorstehe. Aber wir sollten nicht im Keller sitzen müssen, bis es eine Lösung gibt. Gebt uns Bewegungsfreiheit, erlaubt uns zu leben und zu arbeiten, wo wir wollen. Erlaubt uns zu atmen.

SPIEGEL: Wo wollen Sie die Grenzen ziehen, entlang der Ethnien?

Nusseibeh: Genau. Ich schlage eine Föderation von Israel mit einem palästinensischen Staat vor, dessen Grenzen sich an der demografischen Verteilung der Bevölkerung orientieren.

SPIEGEL: Und Sie glauben, die Israelis würden da mitmachen?

Nusseibeh: O ja, liebend gern! Die Israelis wünschen sich einen mehrheitlich jüdischen Staat, deshalb könnten sie das als Lösung sehen. Denn selbst wenn sie die Araber im Westjordanland und im Gaza-Streifen loswerden, die sie als demografische Bürde sehen - sie haben noch immer das Problem mit den Arabern in Israel. Was ich vorschlage, ist nicht komplett verrückt. Diese Idee war von Anfang an da. Wenn Sie zurückgehen in die jüdische Geschichte, dann werden Sie Israelis finden, die Ähnliches von Anfang an vorgeschlagen haben, wie etwa Martin Buber.

SPIEGEL: Was hätten die Palästinenser von so einer Föderation mit Israel?

Nusseibeh: Sie hätten Bewegungsfreiheit, sie könnten leben und arbeiten, wo sie wollen. Das ist ein Riesenvorteil. Und dazu kommt: Bei der klassischen Zwei-Staaten-Lösung gibt es keine Rückkehr von Flüchtlingen nach Israel, nur ins Westjordanland und nach Gaza. Aber wenn man die Grenzen so zieht, wie ich es vorschlage, dann könnten auch Bereiche des derzeitigen Israel Teil eines palästinensischen Staats werden. Und damit könnten Flüchtlinge sogar tatsächlich in ihre Heimatdörfer zurückkehren.

SPIEGEL: In Ihrem Buch bezeichnen Sie Ihren Vorschlag als eine Art Schocktherapie für die Israelis, um sie zu einer Lösung zu drängen. Meinen Sie es am Ende also gar nicht ernst?

Nusseibeh: Es kann beides sein. Ein Alarm, ein Weckruf, denn ich will, dass

die Israelis begreifen, dass sie ein Problem haben und vielleicht doch die Zwei-Staaten-Lösung endlich umsetzen. Aber es kann auch ein Vorzeichen für Dinge sein, die auf uns zukommen. Wenn wir nichts tun, werden die Leute eines Tages aufwachen und feststellen, dass sie in einer Art Föderation leben.

SPIEGEL: Sie glauben, es läuft von selbst in diese Richtung?

Nusseibeh: Genau. Wir gleiten langsam und kontinuierlich in diese Richtung. Schauen Sie sich die Verhandlungen an. Wir drehen uns nur im Kreis.

SPIEGEL: In Ihrem Buch kritisieren Sie den Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern als Spiel, das beide Seiten so lange wie möglich fortführen wollten. Finden Sie, die Verhandlungen sollten aufhören?

Nusseibeh: Es macht mir nichts aus, wenn sich Vertreter beider Seiten miteinander in Amman treffen, wie vor einigen Wochen. Sie können 48 Stunden miteinander reden. Aber ich glaube, es wird nichts bringen. Sie werden nur etwas erreichen, wenn sie aufhören, immer schlauer als der andere sein zu wollen. Israels Premier Benjamin Netanjahu ist ein guter Verkäufer, aber er kommt mir nicht besonders klug vor.

SPIEGEL: Und Präsident Mahmud Abbas?

Nusseibeh: Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich denke, man muss weitsichtig und mitfühlend sein, um etwas zu erreichen.

SPIEGEL: Sollte die Autonomiebehörde sich also lieber auflösen, statt die Besatzung weiter zu verwalten?

Nusseibeh: Nein, das wäre zu riskant. Im Gegenteil, die Autonomiebehörde sollte gestärkt werden, indem man ihr mehr Gebiet und Autorität gibt. Und die internationale Gemeinschaft sollte sie weiter unterstützen.

SPIEGEL: Das könnte sich bald ändern, wenn Fatah und Hamas eine gemeinsame Regierung bilden. Glauben Sie, der Zusammenschluss wird funktionieren?

Nusseibeh: Es ist nur natürlich, dass sich Hamas und Fatah nicht bekämpfen. Aber das heißt noch lange nicht, dass man sich automatisch einigen kann. Mir scheint es derzeit, dass sie ihre Meinungsverschiedenheiten verschleiern - und das gefällt mir nicht. Ich glaube, die Leute sollten wissen, was deren Positionen sind. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Ich habe keine Ahnung, was Chalid Maschaal will.

SPIEGEL: Chalid Maschaal, der politische Führer der Hamas, sagte neulich, die Hamas solle sich auf gewaltfreien Widerstand verlegen. Nehmen Sie ihm das ab?

Nusseibeh: Ich erinnere mich an eine Begebenheit mit Maschaal, vor vielleicht zehn Jahren. Es war auf dem Höhepunkt der zweiten Intifada, ich wurde zum ersten Mal vom TV-Sender al-Dschasira interviewt und erklärte, warum Selbstmordattentate nicht gut sind, weshalb sie nichts bringen. Was ich zunächst nicht bemerkte: Auch Maschaal war dazugeschaltet. Er erwiderte, ich würde Unsinn reden; Selbstmordanschläge, Schießen und Morden, all das sei großartig. Daher macht es mich wütend, wenn ich ihn von gewaltfreiem Widerstand reden höre. Warum kommt er jetzt damit, nach zehn Jahren, in denen er uns ruiniert hat? Die Mauer wäre nicht gebaut worden. Alles wäre anders gekommen.

SPIEGEL: Wird es demnächst Wahlen im Westjordanland und in Gaza geben?

Nusseibeh: Nein, das glaube ich nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich in der derzeitigen Lage für Wahlen sein soll. Wahlen sind gut, wenn das Land frei ist und die Menschen, die man wählt, auch Entscheidungen treffen können. Aber in unserem Fall ist das eine Illusion. Was haben jene, die wir gewählt haben, für uns getan? Nichts. Wenn Abbas, der Präsident dieses Landes, von einem Ort zum anderen reisen will, braucht er dafür eine Genehmigung.

SPIEGEL: Wie kann eine Föderation funktionieren, wenn doch eine Mehrheit der Palästinenser die Hamas gewählt hat, die einen religiösen Staat will?

Nusseibeh: Wenn Sie von oben auf Gaza schauen, dann sehen Sie die Hamas. Aber ich sehe nicht Hamas. Ich sehe normale Menschen: meine Verwandten, Freunde und Studenten. Sie haben nicht für die Hamas gestimmt, weil sie eines Morgens als Extremisten aufgewacht sind, sondern weil der Friedensprozess fehlgeschlagen ist. Wenn die israelische Regierung heute die Grenzen öffnen würde, würde die Hamas das verhindern? Und wenn, würden die Leute auf die Hamas hören? Nein, ganz sicher nicht. Die Leute wollen ein normales Leben.

SPIEGEL: Wir befinden uns hier auf dem Campus der Al-Kuds-Universität. Was denken Ihre Studenten über Politik, unterstützen sie eher Hamas oder Fatah?

Nusseibeh: Die Studenten hier sind keine Ideologien auf zwei Beinen, sie sind Individuen. Im Jahr 2003 wollten die Israelis die Trennmauer mitten über unseren Campus bauen. Der erste Gedanke, der den Studenten kam, egal, ob sie von Hamas, Fatah oder vom Islamischen Dschihad waren: Wir werden die Soldaten mit Steinen bewerfen. Ich habe ihnen erklärt, dann würde sicher jemand von ihnen getötet werden. Dann hätte die Universität zwar einen Märtyrer, aber am nächsten Tag würde sie geschlossen werden. Der Protest blieb gewaltfrei, die Mauer wurde nicht auf dem Campus gebaut. Was will ich damit sagen? Egal, welcher Ideologie sie anhängen, Menschen sind rationale Wesen.

SPIEGEL: Glauben Ihre Studenten, dass der Konflikt zu lösen ist? Was halten die von

einer israelisch-palästinensischen Bundesrepublik?

Nusseibeh: Nein, sie glauben nicht, dass der Konflikt lösbar ist. Einige hängen noch der Idee einer nationalen Identität an, auch wenn sie nicht wirklich glauben, dass sie den Staat kriegen können, den sie gern hätten. Andere wenden sich der Religion zu. Religiöse Ideen sind plötzlich wichtig.

SPIEGEL: Sie haben in Islamischer Philosophie promoviert. Wie sehen Sie die Rolle der Religion in diesem Konflikt?

Nusseibeh: Ich bin mit der Vorstellung von einem sehr toleranten Islam aufgewachsen. Meine Familie verwaltet seit Jahrhunderten die Schlüssel der Grabeskirche, und wir sind darauf sehr stolz. Das ist unsere Verbindung zum Christentum. Als Muslim ist eine Verehrung für Jesus in mir angelegt, genauso wie für jüdische Propheten.

SPIEGEL: Leider ist das nicht der Islam, den alle Muslime vertreten.

Nusseibeh: Im Kern sind Religionen dazu da, menschliche Werte zu wahren. Aber wenn Religion diese Werte beeinträchtigt, dann ist das eine falsche Richtung. Und das passiert leider in vielen Religionen, der Islam eingeschlossen. Es gibt einige muslimische Geistliche, die ich schätze. Aber grundsätzlich misstraue ich Personen, die sich zum Religionshüter machen.

SPIEGEL: Beten Sie in der Moschee?

Nusseibeh: Nein, so gut wie nie. Einmal habe ich meine Söhne mit in die Moschee genommen, aber dieser Prediger hat mich abgestoßen. Er sprach über wahnwitzige Dinge. Selbst wenn man den Inhalt mal beiseitelässt: wie die schreien. Ihre Worte sind wie Peitschenschläge, als müsste man die Menschen verängstigen, damit sie zum wahren Islam finden. Aber das ist nicht Islam. Das ist eine Art Terrorismus. Ich sehe den Islam als Religion mit einer sanftmütigen Botschaft.

SPIEGEL: Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wirkt klein neben einem möglichen Krieg mit Iran. Was geschieht, wenn Israel tatsächlich Iran angreift?

Nusseibeh: Das wäre ein großer Fehler. Jede Selbstmanifestation Israels durch den Einsatz von mehr Gewalt ist ein Schritt in die eigene Zerstörung. Es gibt ein Sprichwort: Wer durch das Schwert lebt, wird durch das Schwert sterben.

SPIEGEL: Könnte eine militärische Auseinandersetzung mit Iran den Druck auf Israelis und Palästinenser erhöhen, sich endlich zu einigen?

Nusseibeh: Israel nimmt uns derzeit nicht allzu ernst. Ich glaube, sie werden uns noch lange unter dem Deckel halten. Wenn die Israelis Iran angreifen, wird sie das nicht offener für uns machen. Und sicherlich würde uns das nicht offener ihnen gegenüber machen. Bestimmt würde auch die arabische Welt nicht gerade offener gegenüber Israel sein.

SPIEGEL: Das klingt ziemlich düster.

Nusseibeh: Deswegen meine Vorschläge. Wie viele Menschen leben zwischen Jordan und dem Mittelmeer?

SPIEGEL: Etwa elf Millionen.

Nusseibeh: Vier Millionen Palästinenser im Westjordanland und in Gaza, eine Million in Israel plus sechs Millionen jüdische Israelis. Aber das ist ein kleines Land. Wir sind ineinander verkeilt. Wir müssen miteinander leben. Mein Sohn lebt in einem jüdischen Vorort von Jerusalem. Meine Schwiegertochter hat der Musiklehrerin gesagt, mein Enkelsohn solle die jüdischen Lieder nicht mitsingen. In Ordnung, hat die Lehrerin erwidert: Wenn wir singen, dann macht er eben nicht mit, davon abgesehen ist er Teil der Gruppe.

SPIEGEL: Könnte dieser Staat so aussehen: Wenn es um jüdische Angelegenheiten geht, stehen die Palästinenser am Rand, und ansonsten machen sie mit?

Nusseibeh: Ja, und umgekehrt natürlich, man kann ja von Juden nicht erwarten, dass sie palästinensische Lieder singen. Was soll daran so schwer sein? Muslime und Juden haben für lange Zeit ziemlich nett zusammengelebt. Es war nicht immer eitel Sonnenschein, aber es funktionierte die meiste Zeit doch wirklich besser als in Europa. Wir haben Freundschaften zwischen Juden und Arabern, die stark sind und oft Generationen zurückreichen. Es ist nicht unmöglich.

SPIEGEL: Herr Nusseibeh, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


UPDATE: 18. Februar 2012


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


GRAFIK: Nusseibeh (r.), SPIEGEL-Redakteure Martin Doerry und Juliane von Mittelstaedt in seinem Büro in Jerusalem<BR, >: "Erlaubt uns zu atmen"
(*) Sari Nusseibeh: "Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost". Kunstmann; 208 Seiten; 17,95 Euro.


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Der Spiegel


18. Februar 2012


"Keine Politik für den Mars"


RUBRIK: DEUTSCHLAND; SPIEGEL-GESPRÄCH; S. 34 Ausg. 8


LÄNGE: 1984 Wörter



HIGHLIGHT: CSU: SPIEGEL-Gespräch mit Parteichef Horst Seehofer über die Euro-Krise und die verkorkste Energiewende

Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, 62, über die roten Linien der CSU bei der Euro-Rettung, die gebrochenen Steuerversprechen der schwarz-gelben Koalition und den "paradiesischen Zustand" am Ende seiner Karriere


SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, Sie kommen gerade von einer Reise in die Schweiz. Beneiden Sie die Eidgenossen?

Seehofer: Ein bisschen mehr Schweiz würde uns in Deutschland guttun.

SPIEGEL: Weil die Schweiz nicht ein milliardenschweres Hilfspaket für den Euro schnüren muss?

Seehofer: Manchmal sage ich im Scherz: Ich hätte auch gern das Privileg, dass Bayern bilaterale Abkommen mit der Europäischen Union abschließen darf. Aber ernsthaft: Von der Schweiz können wir Volksentscheide in wichtigen Fragen lernen. Da haben wir in Deutschland nicht die beste Kultur.

SPIEGEL: Als CSU-Chef haben Sie ein Vetorecht in der Berliner Regierungskoalition. Vor drei Monaten, bei der Aufstockung des Euro-Rettungsschirms, haben Sie versprochen: "Bis hierher und nicht weiter." Werden Sie das nächste Griechenland-Paket im Bundestag stoppen?

Seehofer: Darüber haben wir noch nicht entschieden. Es hängt davon ab, ob die Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission grünes Licht gibt und die Beteiligung der privaten Gläubiger erfolgreich abgeschlossen wird. Das Geld für die nächste Tranche kann nur fließen, wenn die Griechen ihre Sparzusagen einhalten. 

SPIEGEL: Ist ein Nein der CSU denkbar?

Seehofer: Ein Nein ist immer dann denkbar, wenn vereinbarte Sparmaßnahmen nicht eingehalten werden. Ich werde vor der Abstimmung im Bundestag am 27. Februar alle maßgeblichen Europapolitiker der CSU zusammenrufen. Für uns gibt es zwei rote Linien: Erstens darf das AAA-Rating Deutschlands durch die Hilfe nicht in Gefahr kommen. Und zweitens muss jede neue Tranche von konkreten Reformschritten der griechischen Regierung begleitet werden.

SPIEGEL: Wissen Sie eigentlich, wie viel rote Linien die CSU bei der Euro-Rettung schon gezogen und überschritten hat?

Seehofer: Keine einzige.

SPIEGEL: Ach ja? Im vergangenen September zum Beispiel haben Sie erklärt, Sie

würden auf keinen Fall Tricks wie finanz-technischen Hebeln zustimmen, um die Schlagkraft des Euro-Rettungsschirms zu erhöhen. Ein paar Tage später waren die Hebel Realität - und von Ihnen hörte man nichts mehr.

Seehofer: Nein. Es gab anfangs die Befürchtung, dass die Hebel dazu benutzt würden, die deutsche Haftungsobergrenze von 211 Milliarden Euro nach oben zu treiben. Das ist jedoch nicht der Fall, und deshalb habe ich nicht interveniert.

SPIEGEL: Die Hebel waren doch gerade dazu da, bei gleicher Haftungssumme den Rettungsschirm wirksamer zu gestalten. Damit stieg aber auch das Risiko für Deutschland, dass am Ende Geld des Steuerzahlers verlorengeht.

Seehofer: Sie können mit einer Haftungssumme bestimmte Forderungen zu 100 Prozent garantieren oder mehr Forderungen zu 50 Prozent. Entscheidend ist, dass Deutschlands Haftungsgrenze nicht überschritten wurde. Da gibt es eine klare Obergrenze.

SPIEGEL: Ihr Generalsekretär Alexander Dobrindt hat vor zwei Jahren erklärt: "Die Griechen haben sich in den Euro getrickst, über beide Ohren verschuldet und halten jetzt die Hand auf. Deshalb: Kein deutscher Steuer-Euro für Griechenland." Das klingt doch heute ziemlich komisch, oder?

Seehofer: Was ist falsch an der Aussage? Natürlich hat Griechenland getrickst. Und Tatsache ist, dass die Bundesrepublik noch keinen Euro verloren hat. Wir gewähren Kredite und Bürgschaften

SPIEGEL: die wahrscheinlich nie mehr zurückgezahlt werden. Griechenlands Schuldenstand liegt bei 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wäre es nicht ehrlicher zu sagen: Griechenland ist pleite, die EU und damit auch Deutschland werden es auf sehr lange Zeit finanziell unterstützen müssen.

Seehofer: Meine sehr verehrten Herren! Die CSU hat sich früh positioniert und ist dafür gescholten worden, dass Griechenland als letzter Schritt aus dem Euro austreten sollte, wenn es seine Schuldenkrise nicht in den Griff bekommt. In Berlin wurden dagegen alle möglichen Argumente aufgefahren. Das ist unmöglich, das geht rechtlich nicht, das widerspricht dem europäischen Geist. Das ist alles Unsinn. Jetzt liegen die Dinge klar auf dem Tisch. Wenn Griechenland nicht willens oder in der Lage ist, die Sparzusagen zu erfüllen, dann sollte es die Euro-Zone verlassen. Das ist die Position der CSU.

SPIEGEL: Wir wollen mit Ihnen über politische Versprechen reden. Können Sie sich eigentlich noch an den Koalitionsvertrag erinnern?

Seehofer: Sehr gut sogar.

SPIEGEL: Darin steht: "Wir werden insbesondere die unteren und mittleren Einkommensbezieher entlasten." Wann wollen Sie dieses Versprechen einlösen?

Seehofer: Darf ich Ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen? Schon 2010 haben wir Familien mit fünf Milliarden Euro mehr Kindergeld und Kinderfreibetrag entlastet

SPIEGEL: und Sie haben den Hoteliers freundlicherweise eine Steuererleichterung verschafft.

Seehofer: Dazu stehe ich, auch wenn manche in der Koalition davon nichts mehr wissen wollen. Bei uns in Bayern blüht der Tourismus, und das liegt auch am ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Hotels.

SPIEGEL: Das ist schön zu hören. Wir fragen uns nur, wann die Steuererleichterung für die einfachen Bürger kommt, über die Sie im Wahlkampf so gern geredet haben.

Seehofer: Wir haben gerade erst ein Gesetz in den Bundesrat eingebracht, das über eine Erhöhung des Grundfreibetrags die Menschen um sechs Milliarden Euro entlastet hätte. Das hat die SPD ohne vernünftige Gründe abgelehnt, und deshalb kann ich nur sagen: Gut, dann machen wir das eben zum Thema im Bundestagswahlkampf 2013. Die SPD tritt mit einer Arie von Steuererhöhungen an.

SPIEGEL: Warum versprechen Sie eigentlich immer wieder Steuersenkungen? Der Grund für die Euro-Krise liegt doch gerade darin, dass Politiker lieber Schulden machen, als für ein vernünftiges Steuersystem zu kämpfen.

Seehofer: Jetzt argumentieren Sie auch schon wie der Märchenonkel Sigmar Gabriel. Der sagt immer, der Staat habe zu wenig Geld. Wir machen doch keine Politik für den Mars. Bayern hat drei Milliarden Euro Rücklagen. Ich erlebe gerade als bayerischer Ministerpräsident, dass Überfluss mitunter schwieriger zu verwalten ist als Mangel.

SPIEGEL: Bayern hat 32 Milliarden Euro Schulden, der Bund rund 1,3 Billionen. Sie haben eine merkwürdige Definition von Überfluss.

Seehofer: Wir Bayern bauen unsere Schulden ab. Bis 2030 wollen wir alle Altschulden getilgt haben. Wir müssen aber auch darauf bedacht sein, dass die Menschen vom Wirtschaftsaufschwung profitieren. Als die SPD noch an der Regierung war, hat sie den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt, weil sie begriffen hat, dass dadurch neue Arbeitsplätze entstehen. Jetzt kommen die Schwätzer von der SPD und sagen, wir hätten zu wenig Steuereinnahmen.

SPIEGEL: Sprechen wir lieber von den Defiziten dieser Regierung. Im Moment weiß niemand, ob die Energiewende, die so abrupt beschlossen wurde, gelingen wird.

Seehofer: Sie muss gelingen. Da ist aber noch viel zu tun!

SPIEGEL: Glauben Sie, dass es gelingen kann, den letzten Atommeiler im Jahr 2022 abzuschalten?

Seehofer: Ja, aber wir müssen im Jahr 2012 die notwendigen Grundentscheidungen treffen. Da ist höchstes Tempo gefordert. Ich werde das beim nächsten Koalitionsgipfel am 4. März auch ganz konkret ansprechen.

SPIEGEL: Was genau?

Seehofer: Wir wollen Preisstabilität, Versorgungssicherheit und Klimafreundlichkeit. Das heißt erstens: Wir brauchen noch 2012 einen Bundesnetzplan für Deutschland im Gesetzblatt. Die Bundesnetzagentur muss dem Parlament bis zum Sommer eine entscheidungsreife Vorlage liefern. Unser größtes Problem wäre eine Destabilisierung des Versorgungsnetzes. Zweitens: Wir müssen den Energiepreisdruck stoppen, der aus dem Einspeisegesetz und den Vergütungen für erneuerbare Energien erfolgt. Drittens: Wir haben bisher keine Antwort, wie wir grundlastfähige Energieträger in dieses System einbinden mit der Folge, dass sich eine Investition zum Beispiel in ein Kohlekraftwerk oder Gaskraftwerk zurzeit noch nicht lohnt. Der vierte Punkt ist Energieeinsparung. Bei der energetischen Gebäudesanierung hängen wir im Vermittlungsausschuss fest. Das sind die vier zentralen Punkte, die wir in diesem Jahr schaffen müssen.

SPIEGEL: Muss die Subventionierung der erneuerbaren Energien zurückgeführt werden?

Seehofer: Ja. Wir brauchen schärfere Degression bei der Photovoltaik und eine einmalige Absenkung der Subventionen. Sonst schlägt das auf die Energiepreise durch.

SPIEGEL: Wirtschaftsminister Philipp Rösler und Umweltminister Norbert Röttgen ziehen nicht an einem Strang, das ist ein Teil des Problems. Würde ein eigenes Energieministerium helfen?

Seehofer: Nein. Die zwei Minister werden das lösen, sonst löst es die Kanzlerin. So einfach ist das.

SPIEGEL: Sie wollen die Lücke, die das Abschalten der Atomkraftwerke reißt, durch Gaskraftwerke schließen. Jetzt hat gerade in diesem Winter Russland die Energiezufuhr gedrosselt. Großkunden in Bayern werden schon aufgefordert, den Verbrauch zu senken. Machen Sie sich nicht abhängig vom Gasdiktat der Russen?

Seehofer: Jetzt lassen Sie uns nicht aus den Temperaturen einer Woche auf die Energiepolitik insgesamt schließen.

SPIEGEL: Gazprom-Chef Alexej Miller hat in die Kältewelle hinein gesagt: Russisches Gas ist immer noch viel zu billig. Warum sagen Sie den Menschen nicht: Die Energiewende wird teuer?

Seehofer: Weltuntergang ist genauso wenig angesagt wie Euphorie. Die Umsetzung der Energiewende läuft noch nicht optimal, das muss noch besser werden.

SPIEGEL: Sie haben im vergangenen Jahr versprochen, sich um ein Comeback Karl-Theodor zu Guttenbergs zu bemühen. Jetzt bleibt er erst einmal in den USA. Sind Sie traurig?

Seehofer: Ich persönlich habe es bedauert, dass er sich so entschieden hat. Ich hätte ihn gern 2013 bei uns mit im Boot gehabt. Aber ich habe auch gespürt, dass diese Endlosdiskussion beendet werden muss. Und insofern war es gut.

SPIEGEL: Einer weniger, der Ihnen nach dem Amt trachtet.

Seehofer: Ach wissen Sie, ich bin jetzt seit 32 Jahren in der Politik. Davon fast ein Jahrzehnt im Bundeskabinett. Ich habe Wettbewerb nie gefürchtet. Sie müssen sich auch nicht mehr beweisen, dass Sie lesen und schreiben können.

SPIEGEL: Das klingt - mit Verlaub - etwas selbstgefällig.

Seehofer: Ist es aber nicht. Abgeklärt, vielleicht. Ich möchte die besten Leute, die für uns zur Verfügung stehen, in herausgehobenen Positionen. Auf allen Ebenen.

SPIEGEL: Was hat die Bürger Ihrer Einschätzung nach mehr irritiert: die abgekupferte Doktorarbeit des Herrn zu Guttenberg oder die Gratis-Mentalität des Bundespräsidenten?

Seehofer: Ich glaube, dass Diskussionen vor allem durch den Umgang mit einem Vorwurf entstehen. Ich höre beim Karl-Theodor sehr häufig aus der Bevölkerung: Ja, wenn der gesagt hätte: Das war Mist!

SPIEGEL: Sie waren vor zwei Wochen schwer grippekrank und lagen acht Tage im Bett. Kommt da eigentlich das Gefühl auf, es geht ja auch mal ohne Politik?

Seehofer: Ich bin jetzt 62 Jahre und betrachte das als großen Vorteil. Ein 30-Jähriger, der gerade in der Familiengründung ist und seine Karriere vor sich hat, sieht vieles emotionaler. Insofern bin ich in einem paradiesischen Zustand.

SPIEGEL: Wie ist das in diesem Paradies?

Seehofer: In diesem Paradies machen Sie die Dinge mit größter Freude.

SPIEGEL: Also treten Sie 2013 zur Landtagswahl wieder an?

Seehofer: Ich werde mir die Frage im Herbst vorlegen und auch mit guten Freunden darüber reden. In einem halben Jahr kann viel passieren. Und wenn man keine Leidenschaft mehr hat, dann sollte man sich das eingestehen und sagen: Man blickt auf ein schönes Lebenswerk, und jetzt gibt es noch einen Lebensabschnitt ohne Politik.

SPIEGEL: Es steht demnach noch nicht fest?

Seehofer: Beim Stand heute wäre die Antwort klar. Wenn es so bleibt, wie es ist: Ja.

SPIEGEL: Es gibt also eine Resthoffnung für Markus Söder schon für 2013.

Seehofer: Ich glaube, dass es da nicht nur bei einem Hoffnung gibt. Ich bin in der einmaligen Situation, vier muntere Vorgänger zu haben und mindestens vier ebenso muntere potentielle Nachfolger.

SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


UPDATE: 18. Februar 2012


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


GRAFIK: Förderprojekte Windkraft
Solarpark
Das Gespräch führten die Redakteure René Pfister und Christoph Schwennicke.


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Der Spiegel


18. Februar 2012


Ofen aus


AUTOR: Dohmen, Frank; Neubacher, Alexander


RUBRIK: WIRTSCHAFT; INDUSTRIE; S. 77 Ausg. 8


LÄNGE: 1673 Wörter



HIGHLIGHT: Industrie: Teurer Strom wird zum Standortproblem

Die Energiewende gefährdet viele Unternehmen. Stahlwerke und Chemiefabriken klagen über hohe Strompreise, unsichere Versorgung - und die Ratlosigkeit der Regierung.


Vor dem Werktor an der Oberschlesienstraße hängen noch die roten Plakate: "Hände weg!" ist da zu lesen oder: "Das Stahlwerk in Krefeld muss bleiben!"

Doch es ist vorbei. Alle Plakate, Proteste und Mahnwachen haben nichts bewirkt. Vor knapp zwei Wochen hat ThyssenKrupp, Deutschlands größter Stahlkonzern, sein Krefelder Edelstahlwerk an den finnischen Konkurrenten Outukumpu verkauft. Der will die Produktion bis Ende nächsten Jahres dichtmachen. Über 400 Beschäftigte brauchen neue Jobs. Der wirtschaftliche Verlust für die gebeutelte Stadt am Niederrhein ist groß.

Verantwortlich für das Ende ist nicht Billigkonkurrenz aus Fernost oder Missmanagement in der Essener ThyssenKrupp-Zentrale, sondern die verfehlte Politik der Bundesregierung. So sehen es jedenfalls die Betroffenen. Seit die schwarz-gelbe Koalition beschlossen hat, im Hauruck-Verfahren aus der Atomkraft auszusteigen, haben sich die Bedingungen für stromfressende Industrien erheblich verschlechtert.

Die Energiepreise steigen, das Risiko von Stromausfällen wächst. Doch der dringend benötigte Ausbau bei den Stromnetzen, Ersatzkraftwerken und erneuerbaren Energien kommt kaum voran. Ausgerechnet Union und FDP trieben die Deindustrialisierung voran und seien dafür verantwortlich, dass in Deutschland der Ofen ausgeht, lautet der Vorwurf einer wachsenden Zahl von Wirtschaftsexperten, Managern und Gewerkschaftern. 

Die Energieversorgung sei jetzt "das Top-Risiko für den Wirtschaftsstandort Deutschland", sagt Hans Heinrich Driftmann, Präsident des Industrie- und Handelskammertages (DIHK). "Man muss sich in Deutschland Sorgen um den Strompreis machen", warnt EU-Energiekommissar Günther Oettinger. Und Bernd Kalwa, Gesamtbetriebsrat bei ThyssenKrupp, schimpft: "Allein in unserem Konzern sind 5000 Arbeitsplätze in Gefahr, weil in Düsseldorf und Berlin eine unverantwortliche Energiepolitik betrieben wird."

Der drohende Niedergang der Schwerindustrie ist gesamtwirtschaftlich umso beunruhigender, weil die Jobverluste nicht an anderer Stelle kompensiert werden. Vom grünen Wirtschaftswunder, das die Bundesregierung im Zuge der Energiewende versprochen hat, ist nichts zu spüren, im Gegenteil. Viele Hersteller von Windrädern und Photovoltaik-Anlagen klagen über schlechte Geschäfte und bauen Stellen ab; die ersten Solarfirmen sind pleite. Der Öko-Branche machen manche Probleme zu schaffen, vor allem aber die hohen Energiepreise, eine bittere Ironie.

Die Bundesregierung reagiert plan- und hilflos. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) und Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) sind in wesentlichen Fragen zerstritten. Röttgen fordert strengere Stromsparvorgaben, Rösler ist dagegen. Rösler will die Solarförderung kappen, Röttgen weigert sich. Bei Sitzungen zur Energiepolitik in Brüssel müssen sich die deutschen Vertreter nun schon seit Monaten ihrer Stimme enthalten, weil die beiden zuständigen Fachminister im Berliner Kabinett keine gemeinsame Linie vorgeben.

Derweil schlägt die Sofortabschaltung von sieben Atomkraftwerken vom vergangenen März auf die Versorgungslage durch, wie das Beispiel Krefeld zeigt. Zur Produktion von rostfreiem Edelstahl, etwa für Spülbecken oder Autobleche, benötigt das Stahlwerk gewaltige Mengen Strom. In riesigen Öfen wird das Metall auf über 1600 Grad Celsius erhitzt. Der Schmelzofen allein verbraucht pro Stunde etwa so viel Energie wie zehn Einfamilienhäuser in einem ganzen Jahr. Ein Fünftel der Gesamtkosten des Werks entfallen auf den Strom, erklärt Betriebsdirektor Harald Behmenburg.

Der Preis des Stroms entwickelt sich nur in eine Richtung: steil nach oben. Im Vergleich zum Jahr 2000 hat sich der Preis für die Kilowattstunde Strom für das Krefelder Werk verdreifacht. Und ein Ende der Entwicklung ist nicht in Sicht. Mit der im vergangenen Jahr eingeleiteten Energiewende, klagt Betriebsleiter Behmenburg, sei alle Planungssicherheit verlorengegangen. Niemand wisse, wie sich die Versorgungslage und der Strompreis in den nächsten Jahren entwickeln würden. Für das traditionsreiche Werk habe es keine Überlebenschance gegeben.

Anderen Betrieben droht ein ähnliches Schicksal. Die Energiepolitik betrifft alle klassischen Industriebranchen, die Stahl- und Aluminiumindustrie ebenso wie die Papier- und Zementhersteller oder die Chemie. Die Metallindustrie, bislang ein wichtiger Arbeitgeber, zieht es bereits in Länder, in denen der Strom billiger ist.

Der Düsseldorfer Mischkonzern GEA schloss seine Zinkhütte in Datteln. Der Hamburger Metallkonzern Aurubis, Europas größter Kupferproduzent, klagt über Energiekosten und kündigt an, vor allem in Asien und Südamerika investieren zu wollen. Laut einer aktuellen Umfrage des DIHK will fast jeder fünfte Industriebetrieb Kapazitäten ins Ausland verlagern - oder hat das bereits getan. Fast 60 Prozent befürchten Stromausfälle oder Spannungsschwankungen im Stromnetz, weil auf Wind- und Sonnenkraft noch zu wenig Verlass ist.

"Die Förderung der regenerierbaren Energien hat zu erheblichen Verdrängungseffekten der Beschäftigung in den Sektoren der konventionellen Energieerzeugung sowie in nachgelagerten, insbesondere energieintensiven Branchen geführt", heißt es in einem bereits im vergangenen Jahr veröffentlichten Tagungsbericht des Bundesforschungsministeriums. Und auch der politische Gegner hat das Thema erkannt. Manche glaubten, Green Economy sei alles, warnte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel. "Sie vergessen aber, dass sie kein Windrad herstellen ohne Stahl, ohne Kunststoff, ohne Maschinenbau und Elektrotechnik."

Ebenso wichtig wäre es, das Stromnetz so schnell wie möglich zu stabilisieren, damit es nicht zu einem Blackout kommt. Dass in Deutschland der Strom verlässlich aus der Steckdose kam, galt bislang als wichtiger Standortfaktor. Doch durch den Wegfall einiger Atomkraftwerke bei unberechenbaren Wind- und Solarstrommengen hat sich die Lage geändert.

Die Betreiber der großen Übertragungsnetze sind seit Wochen im Alarmzustand. Der Netzbetreiber Tennet griff bereits auf Notreserven zurück. Dennoch hat es bereits die ersten Havarien gegeben: Stromausfälle im Millisekundenbereich, die kein Normalverbraucher spürt, die die Industrie mit ihren hochkomplexen Produktionsprozessen jedoch vor Probleme stellt. Der Aluminiumhersteller Norsk Hydro hat in seinen Werken in Deutschland seit der Energiewende Schäden in Höhe von einer halben Million Euro wegen Stromschwankungen registriert. Die empfindlichen Walzen fressen sich selbst bei minimalen Stromausfällen fest.

Der Schaden wäre möglicherweise noch größer, hätte Hydro seine Produktion in Neuss nicht sowieso schon stark gedrosselt. Seit über zwei Jahren stehen zwei Produktionslinien komplett still, große Teile der 450-köpfigen Belegschaft arbeiten seitdem kurz. Dabei wären auch in Neuss genügend Aufträge vorhanden.

Allein die Strom- und CO2-Kosten sind so hoch, dass sich der energieintensive Schmelzprozess in den Aluminiumöfen nicht mehr lohnt. Rund 50 Prozent der Kosten fallen in den Bereich Energie.

Zwar hofft das Management, über ein in der EU anhängiges Verfahren zumindest von den CO2-Kosten befreit zu werden, um die Produktion dann wieder aufnehmen zu können. Doch ob das angesichts drastisch steigender Stromkosten tatsächlich gelingt, ist genauso offen wie das weitere Schicksal der Mitarbeiter. Es sei eine einzige Hängepartie, sagt ein Kollege, der in den riesigen Hallen mit der Pflege der langsam rostenden Schmelzöfen beschäftigt ist.

Betroffene Industriemanager wie ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger sagen, es gehe ihnen nicht darum, den Ausstieg aus der Atomkraft rückgängig zu machen. Es brauche jedoch "endlich verlässliche Rahmenbedingungen", so der Manager. "Was wir wollen, ist unsere Produktion in Deutschland konkurrenzfähig zu erhalten." Hiesinger will der Bundesregierung deshalb eine Art Benchmark-System vorschlagen. Danach sollen sich die Industriestrompreise in Deutschland am europäischen Durchschnitt orientieren.

Sorgen bereitet der Industrie, dass nicht klar ist, wie die Regierung die Stromversorgung künftig sicherstellen will. Es müssten Pumpspeicherkraftwerke gebaut werden, um die Energie für windschwache und sonnenarme Phasen zu speichern. Doch neue Anlagen sind bisher kaum geplant. Milliardenbeträge müssten in belastbare Stromnetze gesteckt werden, um Windstrom von der Küste in das Ruhrgebiet oder nach Bayern und Baden-Württemberg transportieren zu können. Doch die Bundes- und Landespolitiker streiten noch darüber, wo die Leitungen verlaufen könnten und ob es nötig sein wird, alle Kabel in der Erde zu verbuddeln. Es werden dringend weitere Gaskraftwerke gebraucht. Aber verständlicherweise will derzeit kaum ein Unternehmen in Anlagen investieren, die sich, je nach Laune der Politik, rechnen könnten oder auch nicht.

"In Berlin glaubt man offenbar, dass sich die Energiewende schon irgendwie von selbst zurechtrüttelt", klagt ein Industrievertreter. "Eine Koordination der wichtigen Aufgaben ist nicht erkennbar", schimpft Birgit Ortlieb vom Kraftwerkskundenverband VIK, in dem viele energieintensive Unternehmen zusammengeschlossen sind. Und selbst die Fachpolitiker der Regierungsfraktionen im Bundestag räumen ein, dass es so nicht weitergehen könne. Insbesondere Umweltminister Röttgen spiele auf Zeit und müsse zum Jagen getragen werden, sagte FDP-Wirtschaftspolitiker Martin Lindner. Thomas Bareiß, energiepolitischer Koordinator der Union, steht der Energiewende insgesamt immer skeptischer gegenüber und brachte schon die Einführung eines eigenen Energieressorts ins Spiel, als sich die Minister Röttgen und Rösler mal wieder nicht einig waren.

Beim ThyssenKrupp-Konzern in Essen wollen sich die Mitarbeiter die Energiepolitik der Bundesregierung nicht länger bieten lassen. Vor der kommenden Bundestags- und der nächsten Landtagswahl will Betriebsrat Kalwa mit seinen Kumpels in die Parteiversammlungen stürmen und fragen, wie die Energieversorgung in Deutschland preiswert und sicher geregelt werden solle. "Nur wer uns darauf eine plausible Antwort gibt", sagt der Metall-Gewerkschafter, "kann dann noch auf unsere Stimmen hoffen."


UPDATE: 18. Februar 2012


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


GRAFIK: Stahlarbeiter bei ThyssenKrupp in Duisburg: "Top-Risiko für den Wirtschaftsstandort Deutschland"
Rotorblätter für Windräder: Rückschlag beim
grünen Wirtschaftswunder


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Der Spiegel


18. Februar 2012


Der unbeholfene Mr. Romney


AUTOR: Hujer, Marc


RUBRIK: AUSLAND; USA; S. 84 Ausg. 8


LÄNGE: 2891 Wörter



HIGHLIGHT: USA: Der unbeholfene Mr. Romney

Der aussichtsreichste Präsidentschaftsbewerber der Republikaner predigt Kapitalismus sowie Risikobereitschaft und verspricht Amerikas Rückkehr zu alter Stärke. Darüber hinaus bleibt er merkwürdig blass und konturlos.


Wenn die Reden vorbei sind und er, wie stets zum Finale, seine Lieblingszeilen aus dem Fundus amerikanischer Volkslieder vorgetragen hat, Verse aus "America the Beautiful" und anderen patriotischen Schnulzen, dann drehen die Organisatoren bis zum Anschlag Rockmusik auf. "Wild like an untamed stallion", singt dann Kid Rock, wild wie ein ungezähmter Hengst, und in der Halle beginnt Mitt Romney in die Menge zu greifen, die ihm gierig Plakate zum Signieren entgegenstreckt.

Er ist dann, wie seine Berater sagen, ganz bei sich selbst, der echte Romney, unverfälscht, ehrlich, authentisch. Er lacht in die iPhones, in die hochgereckten Videokameras. Er lacht dieses lachsackhafte dreisilbige Hahaha, das seine Allzweckwaffe geworden ist, um unliebsame Gespräche zu beenden oder sie gar nicht erst zu beginnen. Und dann fängt er damit an, sein liebstes Spiel zu spielen: Herkunft und Alter der anwesenden Fans und Wähler zu raten.

Die mitreisenden Journalisten kennen das schon. Erst die Frage, dann die Antwort, Staunen und schließlich befreiendes Lachen, wie Ende Dezember in New Hampshire, wo Romney eine junge Frau begrüßte. Janelle Batchelder, zweifache Mutter, 31, stand da neben ihrem Mann. "Tochter?", fragte Romney sie. "Frau", korrigierte sie. "Oh", sagte Romney. 

Einen "Eisbrecher" nennen seine Berater das. Es ist ein Spiel, das Romneys Bestreben entspricht, galant zu sein. Deshalb schätzt er jeden so jung wie möglich, bis zur Absurdität jung. Es ist der einfachste Weg, Komplimente zu verteilen, die vielleicht risikoloseste menschliche Interaktion, die man sich denken kann.

Romney, der Multimillionär, ist damit weit gekommen. Er ist nach Vorwahlen in neun Bundesstaaten der Favorit der Republikaner. Unter den verbliebenen vier Bewerbern hat er nicht nur das meiste Geld, er hat auch die beste Organisation und die am besten sitzenden Anzüge.

Aber es geht um weit mehr in diesem Wahlkampf, es geht vor allem um die Frage, ob die Republikanische Partei noch in der Lage ist, einen Kandidaten von präsidialer Statur hervorzubringen, oder sich endgültig als Sammelbecken fundamentalistischer Spinner diskreditiert. Ob die Republikaner einen Gegenentwurf zu Barack Obama haben oder nicht.

Im Moment ist Romney der wahrscheinlichste Herausforderer Obamas im November, auch wenn sein parteiinterner Gegner, der konservative Rick Santorum, gerade in den Umfragen aufholt und ihm bei den nächsten Vorwahlen in Michigan und Arizona Ende des Monats gefährlich nahe kommen oder ihn gar schlagen könnte.

Denn die Republikaner tun sich schwer mit Romney. Nachdem er als Kandidat schon so gut wie festzustehen schien, verpassten sie ihm einen Denkzettel und bescherten ihm eine dreifache Niederlage bei den Vorwahlen in Colorado, Minnesota und Missouri. Die Republikaner ahnen, dass sie an Romney nicht vorbeikommen, aber sie lieben ihn nicht, er ist nicht einer der Ihren, sie träumen von einem anderen Kandidaten wie von einem Seitensprung. "ABR", Anyone but Romney, haben Kommentatoren das Phänomen getauft. ABR ist auch Ausdruck des Maßes an Verzweiflung der Partei mit ihrem Personal.

Solange der Vorwahlkampf der Republikaner ein besserer Zirkus war, mit Bewerbern wie Sarah Palin und Donald Trump, dem Pizzakettenchef Herman Cain und Rick Perry, dem texanischen Gouverneur, der sich nicht merken konnte, welche drei Ministerien er als Präsident abschaffen würde, reichte es, wenn sich Romney einfach nur präsidial gab. Wenn er nur aussah wie ein richtiger Präsident mit seinem vollen, stets gegelten Haar, den grauen Schläfen und der schlanken Statur. Seine Langeweile hatte etwas Erwachsenes, sie wirkte wie eine Stärke.

Doch je kleiner das Feld wurde, je ernsthafter auch die Konkurrenz, desto farbloser wirkte er. Auf den Wahlkampfbühnen sieht er eher aus wie ein Versicherungsvertreter denn wie ein Präsident, der Herr Kaiser aus Washington.

"Can you fix it?", ruft Ann Romney, seine Frau, auf einer Bühne in Florida. Kannst du das Land reparieren, Mitt? Es ist der Satz, der Bob den Baumeister berühmt gemacht hat, die Kinderfigur, die Häuser und Toiletten repariert, ein unglamouröses Männlein, das die heile Kinderwelt in Ordnung hält. Und wenn es stimmt, was Ann Romney erzählt, dann war das die Frage, die sie ihrem Mann stellte, als es darum ging, ob er Präsident werden sollte. "Mitt, can you fix it?" Kannst du das Land wieder heil machen?

Ann Romney spricht in Naples, einer Reichenenklave in Florida, der Heimat von 80 Golfplätzen, bekannt für seinen Yachthafen, und "snowbirds", Winterflüchtlingen, die sich in Florida ein Zweithaus leisten können. Sie soll ihren Mann vorstellen, seinem Wahlkampf eine Seele einhauchen. Mitt-Stabilizer wird sie von ihren fünf Söhnen genannt, sie ist der Ausgleich für seine Kälte. Sie sagt, sie hätte ihren Mann daran erinnert, dass er sich nie wieder der Tortur eines Wahlkampfs unterziehen wollte, worauf er seinen Einsatz mit ihren Geburtswehen verglichen haben soll. Hätte sie, die Mutter von fünf Kindern, es nicht auch immer wieder getan? Und als er dann die entscheidende "Can you fix it?"-Frage felsenfest mit Ja beantwortete, da, sagt Ann Romney, hatte sie keine Zweifel mehr.

"Danke, Partner", ruft Mitt Romney und übernimmt. Den Rentnern, die vor ihm sitzen, Golfertypen mit altgewordenen Prinzessinnen, geht es gut. Sie brauchen "change", wie Obama ihn einst versprach, nicht. Es reicht ihnen, wenn alles so bleibt, wie es ist. Sie brauchen nur dieses eine Ja, dieses Handwerker-Ehrenwort. Sie mögen an Romney seine Liebe für Details, die Flipcharts, die er malt. Sie bewundern die chirurgische Art, mit der er als Chef des Unternehmens Bain Capital Firmen in Zahlen zerlegt hat, um sie erst zu kaufen, zu restrukturieren und wieder zu verkaufen. Er soll die Schleuse dicht halten, die ihnen ihre goldene Enklave garantiert, die sichert, was sie haben, ein Leben ganz oben.

Er verspricht ihnen ein stärkeres Militär. Obamas Budgetkürzungen im Haushalt des Pentagon will er rückgängig machen, denn Amerika, sagt er, dürfe nicht die Fähigkeit verlieren, zwei Kriege auf einmal zu führen, nicht als letzte verbliebene Supermacht.

Er verspricht einen härteren Kurs gegen Nordkorea,auch mit China würde er sich notfalls anlegen. Er will Amerika zurück zu alter Stärke führen, zur gefürchteten Supermacht, und dazu gehört, dass er nicht nur die Mittelschicht, sondern auch die Stärksten in Amerika stärken will, indem sie noch weniger Steuern zahlen. Die Grundsteuer will er abschaffen, die Unternehmensteuern will er senken.

"Ich schäme mich nicht dafür, dass ich erfolgreich war", ruft er. Und die Rentner in Naples jubeln. Romneys Problem ist, dass sie eine Minderheit sind. Sie gehören wie er zu dem einen Prozent der Privilegierten, gegen die das Land auf die Straße geht: die rechten Demonstranten der Tea Party wie die linken der Occupy Wall Street. Für sie ist Romney nicht die Lösung, er ist das Problem. Und bisher sieht es nicht so aus, als könnte er sie hinter sich vereinen, wie es 1980 Ronald Reagan gelungen war, als er Anliegen der religiösen Rechten zum Glaubenstest der Konservativen erhob.

Amerika sucht einen neuen Hoffnungsträger. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über acht Prozent, viele Menschen kämpfen nach wie vor mit den Folgen der Immobilienkrise, die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander. Das Gefühl, nicht mehr wie früher die Chance zu haben, auch reich werden zu können, hat viele wütend gemacht. Es geht um den amerikanischen Traum und seine Berechtigung im Jahr 2012, fast drei Jahrzehnte nachdem Ronald Reagan "It's morning in America" rief, dreieinhalb Jahre nachdem der erste schwarze Präsident Amerikas gewählt wurde.

Aber was will Mitt Romney? Es ist sein Erfolg als Unternehmer, auf den er als Politiker immer wieder verweist. Die 250 Millionen Dollar, die er als Chef von Bain Capital verdient hat, sind für ihn der Beleg seiner Verlässlichkeit. Mit den gleichen Mitteln, die ihm in der freien Wirtschaft Erfolg brachten, will er nun Amerika sanieren. Als brauchte er dazu keine Vision, keine politische Mission. Romney will nicht dieses Land führen, weil er an etwas glaubt. Er will ein neues Spielzeug, eine neue Herausforderung, er will im Weißen Haus wohnen.

In seinen Reden zeichnet er den Kontrast zu Obama, es ist ein Kontrast der Extreme. Obama sei ein Sozialist, der alles auf Staatsprogramme setze, auf den "Nanny State". Er selbst stehe für das Prinzip, dass der Erfolg der Starken den Schwachen helfe. Er predigt Kapitalismus und Risikobereitschaft. Aber was weiß einer wie er vom Risiko, wenn er doch selbst immer nur ganz oben war?

Willard Mitt Romney machte eine Karriere von gespenstischer Perfektion. Er wuchs in Bloomfield Hills auf, einer Reichenvorstadt Detroits. Sein Vater war Chef von American Motors, später dreimaliger Gouverneur von Michigan, 1968 trat er als parteiinterner Herausforderer des späteren Präsidenten Richard Nixon an. "Wenn ich Mitt sah, sah ich immer sofort auch George Romney", erinnert sich Bill Bain, Romneys späterer Chef.

Es gab von Anfang an einen Plan, und Romney folgte diesem Plan: Er sollte eine Kopie seines Vaters werden. Er ging auf die besten Schulen, studierte an der Stanford-Universität und der Eliteschule der Mormonen, er ging 30 Monate als Missionar nach Frankreich, obwohl er gerade seine künftige Frau kennengelernt hatte. Er wurde Unternehmensberater bei Boston Consulting, 1977 warb ihn Bain ab. 2002 wurde er Verwaltungschef der Olympischen Winterspiele in Salt Lake City, dann Gouverneur des liberalen Bundesstaats Massachusetts. 2008 trat er zum ersten Mal als Präsidentschaftsbewerber an, scheiterte aber an John McCain.

Seit mehr als vier Jahren ist er nun im Dauerwahlkampf. Er kann es sich leisten als einer der reichsten Präsidentschaftsbewerber der Geschichte. Sein Vermögen hat er als Chef von Bain Capital verdient, er gibt es als Beleg für seinen Unternehmergeist aus, für seinen Wagemut. Dabei war es, wie immer bei Romney, nicht seine Zukunft, die er riskierte. Firmenchef Bill Bain hatte ihm zuvor ein Rundum-sorglos-Paket geschnürt, ihm versprochen, ihn wieder zu seinem alten Gehalt anzustellen, wenn es mit der neuen Firma nicht klappen sollte.

Scheitern gehört zum Wesen des Kapitalismus, der Kern der "konstruktiven Zerstörung", von der Romney gern spricht, kein Makel, sondern das Pendant zum Erfolg. Aber Romney kam nie dazu, scheitern zu können. Die Amerikaner stört genau das, nicht sein Reichtum, sondern dass er niemals kämpfen musste.

Scheitern macht Politiker menschlicher, und so kommt es, dass Romney immer wieder von anderen überholt wird, selbst von Konkurrenten, die den strikten moralischen Vorstellungen seiner Partei diametral widersprechen. Newt Gingrich etwa, der aus zwei seiner Ehen ausstieg in einer Art, die gegen alle Grundprinzipien konservativer Republikaner verstößt. Ein solches Leben aber ist vielen Amerikanern näher als die perfekte 43-jährige Ehe Romneys und die Parade seiner wohlerzogenen Söhne, die wie er karierte Hemden tragen. Selbst mit George W. Bush, der auch aus einer reichen Elitefamilie kam, konnten sich die Menschen mehr identifizieren, weil er dem Alkohol verfallen war, weil er mit dem Scheitern kämpfte, aber schließlich gewann. Erlösungsgeschichten sind die Essenz des amerikanischen Traums, sie machen Kapitalismus in Amerika zur Ersatzreligion.

Romney steht auf der Bühne in Hialeah, Florida, einem Ort mit einem Durchschnittseinkommen sicher nicht halb so hoch wie in Naples. Englisch ist hier nach Spanisch nur die zweite Sprache. Deshalb reden seine Vorredner Spanisch, die lokalen Polit-Größen, die ihn einführen, sie reden von Castro, von Chávez, den Staatschefs der Länder, aus denen viele hier kommen, weil sie eine zweite Chance suchten. Romney spricht kein Spanisch, sein Sohn Craig tritt an seine Stelle. "Mi padre no habla español", sagt er. "Aber mein Vater spricht die Sprache der Freiheit. Er spricht die Sprache des Wohlstands."

Das soll heißen, dass Romney der richtige Präsident für Amerika ist. Aber es gibt da ein Hindernis, Romney fehlt das Gefühl für den Alltag, ein Verständnis für das Leben normaler Menschen. In einem CNN-Interview sagte er: "Ich mache mir um die Armen keine Sorgen. Amerika hat ein sehr üppiges Sicherheitsnetz." Es ist nicht gut, wenn man sorglos über Arme daherredet, auch nicht, wenn man ein Republikaner ist. "Er hat kein Gefühl für die lange Tradition konservativen Denkens", schreibt Stephen Hayes im "Weekly Standard". "Er tut so, als hätte die Gesellschaft ihre Pflicht erfüllt, weil sie ein Sicherheitsnetz gespannt hat. Romney ignoriert damit völligden zentralen konservativen Gedanken, dass der Kapitalismus dazu beiträgt, Armut zu überwinden. Armut ist kein Schicksal."

Mitt Romney ist unbeholfen im Umgang mit Menschen, er hat da kein Talent. Er will lustig sein, nahbar, er versucht öffentlich Geschmack an einfachen Dingen zu finden, an Fastfood, an Pick-up-Trucks. Aber es wirkt wie ein Kraftakt. Sein Wahlkampf ist ein nicht enden wollender, plumper Annäherungsversuch.

"Wenn die Kameras ausgehen", versichert seine Frau, "erzählt er einen Witz." Aber bei einem wie ihm muss man das erleben, um daran glauben zu können.

Wer ist Mitt Romney? Was bewegt ihn? Seine Religion, über die er kaum redet, schafft Distanz. Romney ist aktiver Mormone. Es ist ein Glaube, der von vielen Amerikanern mit Skepsis gesehen wird, als Kult. Und obwohl die Kirche sich schon vor über hundert Jahren von der Polygamie abwandt, denken viele bei Mormonen als Erstes an Vielweiberei.

Romney ist nicht nur irgendein Mitglied der Kirche. Er erfüllte mehr als nur seine Pflicht. 1981 wurde er Bischof in Boston. Er predigte, er verteidigte die Dogmen der Kirche. Der ehemaligen Babysitterin seiner Kinder, die ein uneheliches Kind erwartete, riet er, es zur Adoption freizugeben. Es ist eine Zeit, die Fragen aufwirft. Aber Romney ist nicht bereit, über sie zu sprechen. Er will keine Aufmerksamkeit für seine Religion. Als er vor vier Jahren eine Rede über Glauben hielt, erwähnte er seine Religion nur ein einziges Mal. "Im Romneyland darf das Wort Mormonentum niemals erwähnt werden", schreibt Frank Rich im Magazin "New York". "Seine ganze Persönlichkeit ist unecht, weil seine Kernidentität nicht offen benannt werden darf."

Am Abend vor den Vorwahlen in Florida, von denen er weiß, dass er sie gewinnen wird, gibt er seine Abschlusskundgebung in "The Villages", einem Dorf mit künstlichen Bootsanlegestellen - wieder so eine Enklave, die sich verbarrikadiert vor der Realität. Er wettert gegen Obama und kommt wieder auf die Volkslieder zu sprechen, die er so liebt. Aber diesmal rezitiert er sie nicht, er schaut in die Runde und ruft: "Wollen wir singen?" Selbst Journalisten, die ihn seit Monaten begleiten, holen ihr iPhone heraus, hören überrascht und entsetzt zu, wie er "America the Beautiful" singt.

Als er am nächsten Abend in Las Vegas auftritt, in der Lagerhalle eines Maschinenbauunternehmens, skandieren seine Fans "Sing, Mitt, sing", als er zu der Passage mit den Liedern kommt. Aber spätestens da wird ihm wohl klar, wie lächerlich er sich macht mit seinem Versuch, volksnah zu sein, wie er Respekt einbüßt. Mit einem kurzen Satz versucht er wieder Ordnung herzustellen. "Ich singe nicht", sagt er, "ihr wisst ja, ich liebe Amerika."

Und so bleibt er der Langweiler, der "plastic man", wie ihn die Presse nennt. "Believe in America" ist sein Wahlkampfslogan. Aber alle fragen sich: An was glaubt Mitt Romney? Und was will er? Welches Amerika möchte er?

Er hat so häufig seine Meinung geändert. Als Gouverneur von Massachusetts brachte er eine Gesundheitsreform auf den Weg, die Obama als Vorbild diente. Aber da die Republikaner Obamas Reform hassen und als Sozialismus brandmarken, ist "Obamacare" nun das erste Gesetz, das Romney abzuschaffen verspricht. Früher vertrat er durchaus fortschrittliche Ansichten zur Einwanderung, zum Umweltschutz. Seine Frau spendete sogar für die Organisation "Planned Parenthood", die sich für Abtreibungsrechte einsetzt. Das war einmal.

Nun stellt sich die Frage, was mit Romney passiert, wenn er die Vorwahlen gewinnt. Bleibt er bei seinem rechtskonservativen Kurs? Oder bewegt er sich zurück in die Mitte, wo er schon einmal war, um im Kampf gegen Obama die Wähler der Mitte zu bekommen? Der Kampf Romney gegen Romney dürfte einer der interessantesten dieses Wahlkampfs werden, das glaubt auch die "New York Times". Niemand weiß, wie dieser Mann regieren würde. Ihn zu wählen bleibt ein Risiko, eines, das wieder einmal nicht bei ihm, sondern bei den anderen liegen würde, den Wählern.

Einmal, im Sommer in New Hampshire, wollte er zeigen, wie er sein wird als künftiger Präsident. Er wollte dort die Mitglieder des Rotary-Clubs von Portsmouth treffen, treueste Wähler der Republikaner. Sie warteten in einem Saal über der Redhook-Ale-Brauerei auf ihn, er war spät dran. Oben wurde schon das Mittagessen serviert, Hühnchen, Reis und Erbsen.

Romney eilte die Treppenstufen zum Festsaal hoch. Er bat seinen Assistenten um sein Sakko, in das er schnell schlüpfte. "Soooo", sagte er zu der Gastgeberin, die ihn nach oben geleitete, "dann wollen wir mal zu den Rotariern gehen." Er stieß die Tür auf, dann stand er im Saal und sah die Rotarier in T-Shirts und Holzfällerhemden sitzen, schlüpfte aus dem Sakko und reichte es schnell seinem Assistenten, der es verschwinden ließ. "Da bin ich", sagte Romney. "Es ist großartig, hier zu sein."


UPDATE: 18. Februar 2012


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


GRAFIK: Präsidentenpaar Obama: Sozialist mit Staatsprogrammen?
Republikaner Santorum, Gingrich, Romney


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Der Spiegel


18. Februar 2012


Am Tropf der Subventionen


AUTOR: Pauly, Christoph


RUBRIK: WIRTSCHAFT; EURO-KRISE; S. 74 Ausg. 8


LÄNGE: 2280 Wörter



HIGHLIGHT: Euro-Krise: Droht Portugal das Schicksal Griechenlands?

Mit massiven Sparanstrengungen hat sich Portugal zum Musterschüler der Brüsseler Sparkommissare entwickelt. Doch nun steckt das Land in einer tiefen Rezession, es wird weitere Milliarden Unterstützung brauchen - und strukturelle Reformen.


Nichts ist dem portugiesischen Regierungschef Pedro Passos Coelho heilig, noch nicht einmal der Karneval. Portugiesische Staatsangestellte sollen den Entrudo, den traditionsreichen karnevalistischen Höhepunkt am nächsten Dienstag, in ihren Amtsstuben verbringen und arbeiten.

Es sei "nicht die Zeit, über Traditionen zu sprechen", herrschte der konservative Regierungschef jene Portugiesen an, die das als Angriff auf ihre Kultur ansehen. Sie sollten aufhören, im Angesicht der Sparpolitik "zu winseln". Es sei an der Zeit, alte Strukturen aufzubrechen und "die faulen und manchmal selbstbezogenen Verhaltensweisen" zu ändern.

Neben den Karnevalisten müssen auch Kirchgänger und Nationalisten bittere Opfer bringen. Wegen des nationalen Notstands will die Regierung gleich vier Feiertage abschaffen. Fronleichnam und Mariä Himmelfahrt sollen ersatzlos gestrichen werden. Auch der Ausrufung der Republik und der Loslösung von Spanien im Jahr 1640 kann nicht mehr, wie es der Tradition entspricht, mit Familienfesten und einer großen Siesta gedacht werden.

So viel Opferbereitschaft erfreut die Troika aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Zentralbank (EZB), die gerade in Lissabon das Reformprogramm überprüft - und die solche drastischen Maßnahmen gar nicht verlangt hatte. Das Urteil der Sparkommissare wird positiv ausfallen. Die portugiesische Regierung setzte in den vergangenen Monaten rabiate Steuererhöhungen sowie Kürzungen bei den Rentnern und bei den Arbeitslosen durch. 

In Brüssel und Berlin gelten die Portugiesen deshalb als Musterknaben. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ging in der vergangenen Woche sogar so weit, seinem Amtskollegen Vítor Gaspar weitere Hilfen zu versprechen. Bisher unterstützt die internationale Gemeinschaft das Land mit 78 Milliarden Euro. "Wenn wir das Programm verändern müssen, sind wir bereit", sagte Schäuble zu Gaspar, der sich artig bedankte. Ein Kamerateam fing die Szene ein, auf YouTube avancierte sie schnell zu einem populären Clip.

Doch haben die Portugiesen tatsächlich eine größere Chance als die Griechen, der Pleite zu entrinnen? Oder sind sie nur der nächste Dominostein, der im Zuge der Euro-Krise kippen wird?

Die Finanzmärkte sehen Portugal sehr viel kritischer als die Troika, sie rechnen mit einer Wahrscheinlichkeit von 71 Prozent damit, dass das Land in den kommenden fünf Jahren seine Schulden nicht zurückzahlen kann, wie die Versicherungsprämien für portugiesische Staatsanleihen Anfang Februar zeigen. Die Marktteilnehmer erwarten, "dass ungeachtet der Beteuerungen der führenden europäischen Politiker auch im Fall Lissabons eine Einbindung des privaten Sektors erfolgt oder dass es sogar zu einem Zahlungsausfall kommt", schreibt die Deutsche Bank.

Die 78 Milliarden Euro aus dem Hilfsprogramm reichen noch bis September 2013, weil es dem Land wegen des Schutzschirms gelingt, zusätzlich noch kurzlaufende Schuldscheine zu platzieren. Doch der Augenblick der Wahrheit wird schon bald erwartet. "Notfallpläne für den Fall, dass Portugal nicht auf den Kapitalmarkt zurückkehren kann, müssen bald und glaubwürdig spezifiziert werden", heißt es bei der Schweizer Großbank Credit Suisse.

Zunächst einmal steckt Portugal in einer tiefen Rezession. Die meisten Leute haben wegen der drastischen Sparmaßnahmen der Regierung deutlich weniger Geld zur Verfügung. Weil die Binnennachfrage einbricht, steigt die Arbeitslosigkeit auf ein Rekordniveau. Schon vergangenes Jahr wurden in Portugal 30 Prozent weniger Autos verkauft.

Mindestens 200 000 Portugiesen marschierten am vergangenen Samstag von drei Seiten Lissabons aus auf den zentral gelegenen Praça do Comércio am Tejo. "Nein zur Ungleichheit, nein zur Verarmung", schrien sie. Wie schon bei den Demonstrationen in Griechenland gehört die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zu den beliebtesten Themen der Plakatkünstler. Auf einem ist ein entblößter Premierminister Coelho zu sehen, der von der deutschen Domina auf die Knie gezwungen wird.

Rogério Hortelão gehört zu denen, die trotz aller Probleme ihren Optimismus nicht verloren haben. "Wir sind gut im Improvisieren", sagt der Präsident des Autozulieferers Incompol. Er fing vor 25 Jahren mit einer Drehmaschine und drei Mann an. Nun stanzen in seiner Fabrik in Samora Correia insgesamt 350 Leute an schweren Maschinen Metallteile beispielsweise für BMW aus. Als 2009 schon einmal die Nachfrage in der Autoindustrie eingebrochen war, entließ Hortelão ähnlich wie viele deutsche Mittelständler keine Mitarbeiter, sondern bildete seine Leute weiter. So konnte sich der ehemalige Mechaniker der portugiesischen Luftwaffe einen persönlichen Traum erfüllen. Seine Firma Incompol schweißt nun an CNC-Maschinen Einzelteile für den brasilianischen Flugzeugbauer Embraer oder die Schweizer Firma Pilatus zusammen.

Die Mehrzahl der Produkte liefert Hortelão ins Ausland. Und auch seine inländischen Abnehmer sind die Töchter internationaler Großkonzerne. So etwas macht unabhängig von den Sparprogrammen der Regierung.

Im Unterschied zu Griechenland gibt es in Portugal durchaus konkurrenzfähige Unternehmen, die auf dem Weltmarkt reüssieren. In der Nähe des Hafens Setúbal steht beispielsweise die größte und modernste Papierfabrik Europas.

Die Portugiesen haben den Skandinaviern nach und nach den Rang abgelaufen, wenn es darum geht, hochwertiges Kopierpapier zu liefern. "Wir verkaufen jedem Deutschen jedes Jahr mindestens 500 Blatt für ihre Kopierer", sagt Hermano Mendonça, der Marketingleiter von Portucel in fließendem Englisch. Die börsennotierte Firma, die mehrheitlich einem portugiesischen Familienclan gehört, exportierte 2011 Papier im Wert von fast 1,5 Milliarden Euro.

Grund für den Erfolg sind große Eukalyptuswälder, die in Portugal mittlerweile wachsen. Die Monokulturen werden von Umweltschützern kritisch beäugt, geben aber mit ihren langen Fasern einen guten Rohstoff für das Papier ab. Die Firma Portucel besitzt 120 000 Hektar Wald und kauft zusätzlich bei Tausenden von privaten Waldbesitzern ein. Der Hunger nach Rohstoffen ist so groß, dass demnächst Holzplantagen in den Ex-Kolonien Mosambik und Brasilien hinzukommen sollen.

Es ist die Exportindustrie, die noch gut läuft in dem Land an der Südwestecke von Europa. Nach dem EU-Beitritt im Jahr 1986 engagierten sich hier einige deutsche Großkonzerne massiv, es gab noch nicht die starke Konkurrenz der Standorte aus Osteuropa und Asien. Von diesen Investitionen profitiert das Land immer noch.

Volkswagen beispielsweise produziert mit 3600 Mitarbeitern in seinem Werk bei Setúbal die Großraumlimousine Sharan sowie den Eos und den Scirocco. Die Produktion ging im vergangenen Jahr um ein Drittel nach oben, die Exportquote lag bei knapp hundert Prozent. Auch Bosch hat in dem Land viele tausend Mitarbeiter, das größte Autoradiowerk Europas steht im nordportugiesischen Braga. Der Produktbereich Warmwasser wird sogar von Portugal aus geführt.

Doch die letzte deutsche Großinvestition liegt schon eine Weile zurück. Zwar ist das Land durchaus wettbewerbsfähig, weil die Löhne lange nicht so stark wie in Griechenland gestiegen sind. Aber die Transportkosten für den 2000 Kilometer weiten Weg an die Peripherie Europas sind so hoch und die lokalen Absatzmärkte so klein, dass die meisten Unternehmen in den vergangenen Jahren eher nach Asien gingen.

Subventionen aus Brüssel sorgten dafür, dass sich viele Portugiesen auch nicht besonders anstrengten, etwas Eigenes aufzubauen. Bundeskanzlerin Merkel prangerte die aufwendigen Brücken und Tunnel auf der portugiesischen Insel Madeira an, deren Gouverneur allein öffentliche Schulden von sechs Milliarden Euro aufgehäuft hat. Doch auch die Autobahnen rund um Lissabon gehören zum Feinsten, was Europa zu bieten hat.

Dieser Tage entdeckten die Kontrolleure der Troika, dass das Agrarland Portugal 2,5 Milliarden Euro mehr Agrargüter einführt als selbst exportiert. Sie wollen das in den Gesprächen mit der Regierung in der nächsten Woche ansprechen. Kenner der Landwirtschaft wundern sichnicht. Viele Flächen liegen brach, weil es einfacher war, Subventionen für Olivenbäume zu kassieren, als dann auch noch die Oliven zu ernten. Wer an der Algarve unterwegs ist, schaut etwas ratlos auf die vielen vollen Orangenbäume. Das Ernten sei nicht mehr wirtschaftlich, lamentieren die Obstbauern. Die Rumänen, die in den vergangenen Jahren das Pflücken übernahmen, seien doch arg teuer geworden.

Selbst der Tourismus ist seit der Finanzkrise eingebrochen. Weil das britische Pfund schwächelt, sind viele Engländer zu Hause geblieben, die normalerweise die Strände der Algarve heimsuchen. Und die deutschen Touristen werden von den zwölfstöckigen Betonsilos in Städten wie Portimão abgeschreckt, die vor ein paar Jahren in den Zeiten des billigen Geldes hochgezogen wurden und nun vergebens auf einen Käufer warten.

Die scheinbar sozialen Taten der Regierenden haben ebenfalls zur Misere des Landes beigetragen. Sie verhinderten vor vielen Jahrzehnten inflationsgerechte Mieterhöhungen. So kommt es, dass viele Bürger Lissabons immer noch 50 Euro Monatsmiete zahlen, aber in halbverfallenen Häusern leben. In vielen Städten des Landes gingen die Besitzer dazu über, die Fenster zuzunageln, anstatt die Wohnungen zu vermieten.

Weil neue Mietverträge kaum zu ergattern waren, mussten sich junge Leute hoch verschulden und Immobilien kaufen, wenn sie von zu Hause ausziehen wollten. Das war in den Tagen des Booms kein Problem, Portugals Banken finanzierten gern sogar mehr als den Kaufpreis des Hauses. "Sie fragten mich, ob ich nicht auch noch in Urlaub fahren wollte", berichtet die alleinerziehende Mutter Paula Dias.

Mittlerweile kämpfen die Banken selbst ums Überleben, sie vestärken den Druck auf die Kreditnehmer, die noch zahlen können. Die Deutsch-Portugiesin Paula, die bei dem Mittelständler Incompol arbeitet, gibt deshalb noch Deutsch-Unterricht in verschiedenen Sprachinstituten.

Die Nachfrage nach Sprachkursen ist groß. Viele von Paulas Schülern haben sich nach Deutschland aufgemacht. Denn seit der Krise gibt es einen neuen Exportartikel Portugals: gutausgebildete Hochschulabgänger.

Selbst Alexandre de Sousa Carvalho, ein sanfter, gutaussehender Revolutionär mit dunklen Haaren, ist nachdenklich geworden, weil immer mehr Freunde das Weite suchen. Er hat mit ein paar Leuten im vergangenen Jahr über Facebook annähernd 500 000 Leute auf die Straße gebracht. Ihr Slogan hieß "Geração à rasca", eine Generation in Bedrängnis.

Die jungen Leute sind die Hauptbetroffenen der portugiesischen Sozialgesetze, die ausgesprochen unsoziale Folgen haben. Weil der Kündigungsschutz bei normalen Arbeitsverträgen hoch ist und Arbeitgeber selbst beim Auslaufen von Zeitverträgen eine Abfindung zahlen müssen, sind sogenannte Recibos verdes weit verbreitet. Diese grünen Bescheinigungen sind ein Dokument der Rechtlosigkeit. Die jungen Leute müssen Sozialversicherungsbeiträge zahlen, ohne tatsächlich davon zu profitieren. Sie haben keinen Anspruch auf Weihnachts- und Urlaubsgeld. Und natürlich können sie von heute auf morgen entlassen werden. Carvalho meint, dass neun von zehn Hochschulabgängern sich so über Wasser halten. Dann zitiert er ein portugiesisches Sprichwort "von dem Senf, der zur Nase steigt, bis es reicht".

Doch offenbar ist der Senf noch nicht weit genug gestiegen. Brennende Barrikaden wie in Athen sind in Lissabon nicht zu sehen. Carvalho hält nichts von der "Tabula rasa der Revolution", sondern will erst einmal seine Doktorarbeit in Politikwissenschaft machen.

Es sind dieser Realitätssinn und diese Duldsamkeit, die sich in der Krise als die größten Stärken der Portugiesen erweisen. 85 Prozent der Portugiesen haben bei den letzten Wahlen für Parteien gestimmt, die den Reformkurs Coelhos mittragen. Die meisten Portugiesen wissen mittlerweile, dass sie weit über ihre Verhältnisse gelebt haben. Sie sind zu Einschnitten bereit, auch wenn das bei einem Durchschnittsgehalt von brutto 17 000 Euro im Jahr schwerfällt.

In diesem Jahr sollen die verfügbaren Einkommen wegen der Steuererhöhungen und der Lohnkürzungen im Öffentlichen Dienst noch einmal um sechs Prozent sinken. Kein gutes Umfeld, um eine Wachstumsrate von mindestens zwei Prozent zu erzielen, die nötig ist, damit Portugal die Krise überwinden kann.

Die Kontrollkommission der internationalen Geldgeber, die übernächste Woche ihren nächsten Fortschrittsbericht vorlegen will, wird deshalb auch keine neuen Sparmaßnahmen der Regierung verlangen. Stattdessen fordern die von dem Deutschen Jürgen Kröger angeführten Kontrolleure strukturelle Reformen, um Portugal konkurrenzfähig zu machen. Noch immer importiert das Land ähnlich wie Griechenland viel mehr Waren, als es selbst herstellt.

Eine starke Liberalisierung des Arbeitsmarkts soll helfen, auch den jungen Menschen eine Chance zu geben. Das Justizsystem soll reformiert werden, weil 1,5 Millionen Gerichtsverfahren anhängig sind, vor denen die Richter kapituliert haben. Die Mietgesetze müssen so geändert werden, dass Hausbesitzer ihre Häuser nicht mehr zunageln. Die Kommission will auch wissen, warum die Hafenarbeiter in dem auf die Seewege angewiesenen Portugal deutlich mehr als ihre Kollegen in Hamburg oder Rotterdam verdienen.

Bis solche Strukturreformen greifen, wird allerdings noch viel Zeit vergehen. Erst 2015 oder 2016 wird das Land wohl, so eine interne Schätzung aus der EU-Kommission, an den Kapitalmärkten wieder kreditfähig. Das würde bedeuten, dass die Europäer und der IWF weitere 25 Milliarden Euro zuschießen müssen - im günstigsten Fall.

Doch die Beharrungskräfte sind auch in Portugal groß. Lissabon, Porto und eine Reihe anderer Städte haben entschieden, dass ihre Angestellten auch in diesem Jahr Karneval feiern dürfen.


UPDATE: 18. Februar 2012


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


GRAFIK: Portucel-Manager Mendonça, Mitarbeiterinnen: Kopierpapier aus Eukalyptusbäumen


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Der Spiegel


18. Februar 2012


Führen durch Vorbild


AUTOR: Böll, Sven; Müller, Peter; Reiermann, Christian


RUBRIK: WIRTSCHAFT; HAUSHALT; S. 70 Ausg. 8


LÄNGE: 1635 Wörter



HIGHLIGHT: Haushalt: Merkel will Sparen zum Wahlkampfschlager machen

Weniger Elterngeld, neue Eingriffe in die Sozialkassen: Um die skeptischen Euro-Partner zu überzeugen, wollen Kanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble daheim den Sparkurs verschärfen. Der Wahlkampfhit heißt Schuldenabbau.


Ihren Partnern aus der Euro-Zone präsentieren sich Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) gern als Pädagogen. Kaum ein Europäischer Rat vergeht, bei dem die deutsche Regierungschefin nicht die Vorzüge des Sparens predigt ("Solide Haushalte und Wachstum schließen sich nicht aus"), kaum ein Finanzministertreffen verstreicht ohne Hinweis des deutschen Kassenwarts, dass einige Länder mit Blick auf ihre Staatsfinanzen noch Hausaufgaben zu erledigen hätten.

Die Belehrungen, gepaart mit dem dezenten Hinweis, dass Deutschland vergleichsweise vorbildlich dastehe, haben den beiden im Kreise ihrer Kollegen das Image von Oberlehrern eingetragen.

Wie gut es um die deutschen Finanzen steht, offenbarte Anfang der Woche der Frühwarnbericht der EU-Kommission. Als einziges großes Land bekam Deutschland ein fast tadelloses Zeugnis attestiert. 

Und trotzdem: Die Bundesrepublik, von vielen in Europa bislang schon als Maßstab für solide Haushaltsführung angesehen, soll nach dem Willen von Merkel und Schäuble noch vorbildlicher werden. "Wir können nicht von Griechenland und den anderen Krisenländern immer neue Einschnitte verlangen, und bei uns läuft alles weiter wie gehabt", sagt ein Merkel-Vertrauter.

Kanzlerin und Finanzminister wollen deshalb den Konsolidierungskurs merklich verschärfen. Im Haushalt für 2013, der in diesen Tagen im Finanzministerium vorbereitet wird, sollen etliche Milliarden eingespart werden. Zudem wird die letzte Stufe der Schuldenbremse, die erst 2016 greifen sollte, um zwei Jahre vorgezogen.

Das Spardiktat der Kanzlerin, über das aktuell vor allem der Süden des Kontinents stöhnt, soll als Mittel ausgleichender Gerechtigkeit nun auch die Deutschen treffen. Von Eingriffen in die Sozialkassen ist in der Regierung die Rede und von verstärktem Abbau staatlicher Leistungen. Merkel und Schäuble glauben, dass Deutschland in der Euro-Krise nur dann glaubwürdig bleibt, wenn es den Partnern demonstriert, dass es sich nicht auf vergangenen Anstrengungen ausruht. "Führen durch Vorbild" gilt nun als Devise.

Merkel versucht eine neue Wandlung. Sie war die Kanzlerin für längere Atomlaufzeiten und dann für die Energiewende. Sie hat sich mal gegen die Pleite-Griechen und mal für Europa in Szene gesetzt. Jetzt probiert sie es mit jener Rolle, in der sie nach Auffassung ihrer Vertrauten schon während der Finanzkrise am erfolgreichsten war: der schwäbischen Hausfrau.

Dass in der Not das Geld zusammengehalten werden muss, entspricht nach Merkels Einschätzung nicht nur tiefsitzenden Reflexen der Deutschen, sondern auch aktuellen Umfragen. Bei der Sonntagsfrage stehen CDU und CSU derzeit bei 38 Prozent, das sind vier Prozentpunkte mehr als bei der vergangenen Bundestagswahl - es ist der beste Wert der Union seit Bestehen der schwarz-gelben Regierung.

Und vor dem Hintergrund der Euro-Krise haben Demoskopen einen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung ausgemacht. Wahlversprechen auf Pump haben ihre Zugkraft beim Publikum verloren. Stattdessen legen die Deutschen Wert auf solide Staatsfinanzen. Weniger Schulden sind ihnen lieber als niedrigere Steuern.

Zudem haben sich auch in der Koalition die Gewichte verschoben. Die FDP, die sich lange Zeit als Steuersenkungspartei verstand, hat nun den Schuldenabbau zu ihrem Markenkern erklärt. Und selbst die CSU gibt sich auffallend zahm. Vor Jahresfrist war bei den Christsozialen noch von einem großen Steuerreformkonzept die Rede. Jetzt wollen sie nur noch die Entlastung zum Thema machen, die von der SPD im Bundesrat gerade "ohne vernünftige Gründe abgelehnt" wird, wie Parteichef Horst Seehofer beklagt.

Die CDU hat das Thema dagegen gänzlich abgeschrieben. Merkel will sich dem Wahlvolk ganz als Europakanzlerin stellen, außen- wie innenpolitisch. Im Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Parteizentrale, verfolgen ihre Leute schon länger, wie das Thema Sparen an Gewicht gewinnt. Merkels Generalsekretär Hermann Gröhe machte vor kurzem schon mal klar, dass sich der Wahlkampf deutlich von der letzten Kampagne unterscheiden werde. Steuersenkungen, niedrige Sozialbeiträge, irgendwelche sonstigen Wahlgeschenke, all das werde es nicht geben, sagte Gröhe. "Wir werden 2013 nicht mit dem großen Füllhorn vor die Wählerinnen und Wähler treten." Die dramatischen Folgen der Überschuldung in Europa hätten jedem klargemacht, "welch großen Wert Sparsamkeit hat".

Und so mutiert die Etataufstellung für 2013 zur Wahlkampfvorbereitung. Finanzminister Schäuble hat sich einiges vorgenommen. Schon 2014, nicht erst 2016, wie es die Schuldenbremse vorgibt, will er weitgehend ohne neue Schulden auskommen. Die Fiskalregel erlaubt ihm eine Nettokreditaufnahme von maximal 0,35 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung, umgerechnet rund neun Milliarden Euro. Nach internen Berechnungen des Bundesfinanzministeriums lag dieses sogenannte strukturelle, also von konjunkturellen Einflüssen bereinigte Defizit, 2011 noch bei 1,1 Prozent. Dieses Jahr soll es auf 0,5 Prozent sinken.

Das Ziel ist ehrgeizig. Um die Größenordnung zu erreichen, muss die Koalition schon im Etat für das laufende Jahr, vor allem aber bei der Aufstellung des Haushalts für 2013 auf strikte Sparsamkeit achten. Dieses Jahr soll es nach den Vorstellungen von Unions-Fraktionsvize Michael Meister bei einer Neuverschuldung von 26,1 Milliarden Euro bleiben, und das, obwohl im Sommer die ersten Raten für den neuen Euro-Rettungsschirm ESM fällig werden, mindestens 8,6 Milliarden Euro. Das Ziel will er vor allem durch eine "kluge Haushaltsbewirtschaftung" erreichen. Soll heißen: Bei möglichst vielen der rund 5500 Etattitel soll im laufenden Betrieb so wenig, wie es eben geht, ausgegeben werden.

Hinzu kommen zusätzliche Einnahmen. Die Steuern sprudeln üppiger als im Herbst gedacht. Auch spart Schäuble etliche Milliarden, weil die Zinsen für deutsche Staatsanleihen wegen der Euro-Krise auf Rekordtief verharren.

Im nächsten Jahr werden die Herausforderungen größer. 2013 will der Finanzminister die Neuverschuldung auf eine Größenordnung von rund 15 Milliarden Euro drücken. Das wird allerdings nicht einfach. Weil die eingeplante Finanztransaktionsteuer europaweit nicht durchsetzbar ist und eine Reihe von Mehrausgaben zu verbuchen sind, fehlen ihm knapp zehn Milliarden Euro, um die Neuverschuldung auf das angepeilte Niveau zu senken.

Deshalb muss ein neues Sparpaket her. Schäubles Beamte haben schon genaue Vorstellungen davon, wie es aussehensoll. Im Visier haben sie vor allem die Sozialkassen, die dank guter Konjunktur derzeit üppig mit Geld ausgestattet sind. So wollen die Finanzministerialen nicht nur bis zu zwei Milliarden Euro am Bundeszuschuss für den Gesundheitsfonds der gesetzlichen Krankenkassen sparen. In der gleichen Größenordnung wollen sie auch den Zuschuss des Bundes an die Rentenversicherung kappen, und das nicht nur einmalig. Beide Überweisungen des Bundes sollen auf Dauer sinken.

In der Arbeitslosenversicherung kann Schäuble nicht mehr ganz so viel einsammeln, zu oft wurde dort in den vergangenen Jahren bereits der Rotstift angesetzt. Einige hundert Millionen Euro sollen es dennoch sein, auf die die Bundesagentur für Arbeit künftig verzichten soll.

Auch beim Elterngeld will das Finanzministerium streichen. In den vergangenen Jahren sind die Ausgaben dafür aus dem Ruder gelaufen. Jetzt sollen sie gedeckelt werden.

Schäubles Weg ist nicht frei von Risiken. So hat sich der unionseigene Sozialflügel stets als ausgesprochen erfindungsreich erwiesen, wenn es galt, Sparaktionen abzuwenden. Zumindest Ärger mit dem Koalitionspartner bleibt Schäuble erspart. Anfangs wehrte sich Gesundheitsminister Daniel Bahr noch dagegen, Einschnitten in seinen Gesundheitsfonds zuzustimmen. Doch FDP-Chef Philipp Rösler ist entschlossen, ihn auf Kurs zu bringen. "Die FDP ist bereit, die Haushaltskonsolidierung umfassend zu unterstützen", sagt der Wirtschaftsminister. Mit Bahr sei er sich einig, "dass auch das Gesundheitsministerium davon nicht ausgenommen ist".

Ziel der Liberalen sei es, "dass Deutschland möglichst bald damit beginnt, Schulden zurückzuzahlen", sagt Rösler. "Deshalb müssen wir mit dem Haushalt für die Jahre 2013 und 2014 deutliche Signale setzen."

Die Liberalen vollziehen in der Finanzpolitik gerade einen Komplettschwenk. Wenn es ums Sparen geht, wollen nicht wenige Liberale die CDU inzwischen sogar überholen. "Je schneller wir die schwarze Null erreichen, desto besser", sagt Otto Fricke, haushaltspolitischer Sprecher der FDP. "Wenn wir es weiterhin schaffen, konjunkturelle Mehreinnahmen in den Abbau der Neuverschuldung zu stecken und keine weiteren Ausgaben zu beschließen, haben wir weit mehr als manche Vorgängerregierung geschafft", sagt er.

Bei zusätzlichen Ausgaben, die es zu verhindern gilt, denkt die FDP vor allem an das CSU-Prestigeprojekt Betreuungsgeld. "Das Betreuungsgeld ist nicht sakrosankt", sagt der CDU-Wirtschaftspolitiker Thomas Bareiß, "aber manches Lieblingsprojekt im Haushalt von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen auch nicht."

In den vergangenen zehn Jahren haben schon zwei von Schäubles Vorgängern einen ausgeglichenen Haushalt ins Visier genommen, Hans Eichel und Peer Steinbrück. Die Sozialdemokraten scheiterten aber jedes Mal daran, weil ihnen die Konjunktur einen Strich durch die Rechnung machte.

Das ist das größte Risiko für Merkels Sparaktion. Zwar fallen die jüngsten Wachstumsprognosen wieder optimistischer aus. Doch noch immer ist nicht ausgeschlossen, dass die Euro-Krise Deutschland mit in die Tiefe reißt, von der Horrorvision einer zerbrechenden Währungsunion ganz zu schweigen.

Danach aber sieht es, zumindest derzeit, nicht aus. Und so könnte Finanzminister Schäuble als ältester Ressortchef im Kabinett tatsächlich der erste Finanzminister seit über 40 Jahren sein, der einen Haushalt ohne neue Schulden auf den Weg bringt. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht.


UPDATE: 18. Februar 2012


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GRAFIK: Kanzlerin Merkel, Vizekanzler Rösler: Spardiktat für die Deutschen
CDU-Generalsekretär Gröhe: Nicht mit dem Füllhorn


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17. Februar 2012 Freitag 12:42 PM GMT+1 


Apotheke unter der Haut


AUTOR: Irene Berres


RUBRIK: FERNGESTEUERTER MEDIKAMENTEN-CHIP


LÄNGE: 1095 Wörter



HIGHLIGHT: Medikamente sind lebensnotwendig - und ihre Einnahme häufig lästig. Vor allem Patienten, die sich täglich etwas spritzen müssen, leiden unter der Prozedur. Das könnte bald enden: Forscher haben ein Implantat entwickelt, das Arzneimittel direkt im Körper abgibt und Befehle per Funk empfängt.; http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/0,1518,815210,00.html


Multiple Sklerose, chronische Schmerzen, Krebs: Bei vielen Krankheiten sind Betroffene auf regelmäßige Medikamentengaben angewiesen. Was ihr Leben lebenswert macht oder gar rettet, kann schnell auch zur Last werden. Jeden Tag müssen sich manche Patienten Spritzen setzen, immer zur selben Uhrzeit. Zur psychischen Belastung kommt häufig körperliches Leid. Gerade bei älteren Menschen verkalken die Arterien, ein kleiner Pikser wird schnell zur Qual. Damit soll bald Schluss sein, versprechen Forscher des Massachusetts Institute of Technology (MIT) und des Unternehmens Microchips zum Auftakt der AAAS in Vancouver, einer der weltgrößten Wissenschaftskonferenzen.

Ihre Pläne klingen extrem ehrgeizig, was sich in ihrer Wortwahl widerspiegelt. Die Forscher sprechen von einem Durchbruch, von einem Türöffner hin zur Medizin der Zukunft. Das Gerät dagegen ist klein und unscheinbar: Ein Apparat, etwa so groß wie ein USB-Stick. Auf zwei winzigen grünen Silizium-Chips, die auch bei genauem Hinschauen gewöhnlichen Computer-Platinen ähneln, birgt er kleine Kammern mit Medikamenten. In den Körper implantiert kann die Miniatur-Apotheke die Arzneimittel zu einem gewünschten Zeitpunkt freisetzen. Die Befehle erhält sie per Funk. 

Spritzen-Ersatz mit Hightech-Implantat

In einem ersten Praxistest hatten acht Frauen aus Dänemark das Implantat unter die Haut gesetzt bekommen. Bei einer versagte die Technik sofort. Die restlichen sieben versorgte es bis zu 20 Tage lang einmal täglich zuverlässig mit einem Osteoporose-Medikament, schreiben die Forscher um Robert Farra von Microchips in der Fachzeitschrift "Science Translational Medicine". Auf tägliche Spritzen konnten die Patientinnen in der Zeit verzichten. Auch mussten sie nicht an die Einnahme des Medikaments denken. Die Apparate folgten bei der Abgabe einem programmierten Zeitplan. Dies ist neben dem Verzicht auf Spritzen eine der größten Errungenschaften des Geräts: Mehrere Studien zeigen, dass sich nur jeder zweite Patient an seinen Therapieplan hält. "Bei täglichen Spritzen ist die Zuverlässigkeit noch viel niedriger", sagt Farra.

Die Idee, den Körper von innen mit Medikamenten zu versorgen, ist nicht neu. Zum Beispiel bringen Stents, kleine Drahtgerüste, die verengte Blutgefäße weiten, in ihrer Beschichtung oft Arzneimittel mit in den Körper. Sie sondern ihre Medikamente jedoch langsam und kontinuierlich ab. Beim neuen Gerät gelangen die Wirkstoffe wie bei einer Spritze schnell und auf einen Schlag in die Blutbahn. Das können sonst nur implantierte Pumpen - etwa mit Schmerzmitteln oder Insulin.

Der Medikamenten-Schub ist bei manchen Therapien essentiell, so auch bei dem Osteoporose-Mittel. Unter dem Knochenschwund leiden vor allem Frauen nach den Wechseljahren. Das Medikament, eine Form des Parathormons, erhöht den Kalziumgehalt im Blut und kurbelt dadurch die Knochenbildung an. Dies geschieht allerdings nur, wenn es in Schüben in den Blutkreislauf gelangt. Sickert das Parathormon langsam in die Blutbahn, kehrt sich die Wirkung ins Negative um und verschärft den Knochenschwund.

15 Jahre von der Vision bis zum Gerät

Die Idee zu einem ferngesteuerten Medikamenten-Implantat hatten Michael Cima und sein Kollege Robert Langer vom MIT vor 15 Jahren. Kurz darauf gründeten die Forscher die Firma Microchips, die auch die aktuelle Studie finanziert und betreut hat. Erst entwickelten sie ein Verfahren, mit dem sie Tagesrationen des Medikaments in kleine Kammern füllten. Dann bastelten sie den Öffnungsmechanismus. Schlüssel und zugleich Schutz des Medikaments ist ein hauchdünner Deckel aus Titan und Platin. Ungestört kann er die Dosen jahrelang vor Einflüssen von außen schützen. Erreicht ihn jedoch ein winziger Stromstoß, schmilzt das Metall in Bruchteilen einer Sekunde und entlässt die Arznei in den Körper. Die kleine freigesetzte Menge Metall ist nach Angaben der Wissenschaftler unproblematisch.

Glaubt man den Forschern, bestand die Technik den ersten Praxistest mit Bravour. Dreißig Minuten dauerte es, dann hatten Ärzte den älteren Damen - alle zwischen 60 und 75 Jahre alt - die Apparate in die Leiste implantiert. Obwohl ihr Körper das Gerät mit einer dünnen Gewebekapsel abschirmte, wirkten die Medikamente, als hätten sie sie gespritzt. Vier Monate trugen die Frauen das Implantat in sich, an 20 Tagen versorgte es sie mit dem Medikament. Die geringe Kapazität ist die größte Schwachstelle des Chips. Nebenwirkungen haben die Forscher nicht beobachtet: "Einige Teilnehmerinnen haben sogar vergessen, dass das Implantat existiert", sagt Farra.

Bis die Erfindung auf den Markt kommt, wird es trotzdem dauern. "In den nächsten zwei Jahren wollen wir die 20 Kammern auf 365 erweitern", sagt Farra. "Dann würde das Implantat die Patienten ein Jahr lang versorgen." Weitere zwei Entwicklungsjahre rechnen die Forscher ein, um das Gerät mit den vielen Kammern in größeren klinischen Studien zu testen. Dann wird sich zeigen, ob es tatsächlich hält, was die Forscher versprechen, oder ob sich Nebenwirkungen und Risiken zeigen, die in der ersten, kleinen Studie nicht aufgetreten sind. Falls alles gut geht, ist das Osteoporose-Implantat in vier Jahren auf dem US-Markt, hoffen die Entwickler.

Hohe Kosten, großes Potential

Was den deutschen Markt betrifft, sind Experten noch skeptisch: "Die Behandlung mit Parathormon ist vergleichsweise teuer und wird in Deutschland in der Regel erst eingesetzt, wenn die anderen gängigen Osteoporose-Therapien nicht gefruchtet haben", sagte Michael Amling, Sprecher einer Osteoporose-Forschungsgruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Das Implantat wird die Patienten mit Einsetzen und Entfernen umgerechnet etwa 7600 bis 9100 Euro im Jahr kosten. Generell hält Amling, der am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf arbeitet, den Chip jedoch für innovativ.

Die Entwickler des Chips sehen in ihrem Osteoporose-Gerät den Beginn eines neuen Therapiezeitalters. Multiple Sklerose, Krebs, Schmerzmedikamente - obwohl der erste Apparat noch nicht auf dem Markt ist, diskutieren sie bereits über das nächste ferngesteuerte Medikamenten-Implantat.

Einmal, so hoffen sie, können sie verschiedene Arzneimittel in unterschiedlichen Dosierungen im Chip verpacken. Dann sollen auch Sensoren im Chip stecken, die ständig die Körperfunktionen überwachen. "Ich könnte mir vorstellen, dass der Apparat einmal merkt, wenn ein Mensch einen Herzinfarkt hat und sofort reagiert", sagt Langer. Dies ist freilich nur eine Vision - aber vor 15 Jahren hatte der Forscher auch einen Traum, der schon fast wahr geworden ist.

Mit Material der dpa


UPDATE: 17. Februar 2012


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16. Februar 2012 Donnerstag 9:23 PM GMT+1 


Präsident ohne Zukunft


AUTOR: Philipp Wittrock


RUBRIK: ERMITTLUNGEN WEGEN VORTEILSANNAHME


LÄNGE: 1164 Wörter



HIGHLIGHT: Es ist ein Schritt von historischer Tragweite: Die Staatsanwaltschaft will Ermittlungen gegen Bundespräsident Christian Wulff einleiten, wegen des Verdachts der Vorteilsannahme in seiner Amtszeit als Landesvater von Niedersachsen. Das Staatsoberhaupt ist kaum noch zu halten.; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,815710,00.html


Berlin - Die seit Wochen schwelende Wulff-Affäre wird endgültig zur Staatsaffäre. Die Staatsanwaltschaft will gegen Bundespräsident Christian Wulff ermitteln, weil er sich in seiner Amtszeit als Regierungschef von Niedersachsen der Vorteilsannahme schuldig gemacht haben könnte. Am Donnerstagabend teilten die Strafverfolger aus Hannover mit, dass sie beim Bundestag die Aufhebung der Immunität beantragt haben, die das Staatsoberhaupt vor strafrechtlichen Ermittlungen schützt. Ein in der Geschichte der Bundesrepublik bisher einmaliger Vorgang. Erstmals muss sich ein amtierender Bundespräsident einem solchen Verfahren stellen.

Dabei steht nicht der Privatkredit für Wulffs Eigenheim im Fokus, mit dem kurz vor Weihnachten alles seinen Anfang nahm. Den Ermittlern kommt vor allem die zuletzt ausgiebig beleuchtete Beziehung zwischen Wulff und dem Filmemacher David Groenewold verdächtig vor. 

Eine Filmfirma, an der die Produktionsgesellschaft Groenewolds mehrheitlich beteiligt war, hatte Ende 2006 vom Land Niedersachsen eine Bürgschaftszusage über vier Millionen Euro erhalten. Einige Monate später machte Wulff gemeinsam mit dem schillernden Geschäftsmann Urlaub auf Sylt. Groenewold zahlte die Hotelrechnung, Wulff behauptet, sein Freund habe das Geld nur vorgestreckt, er habe es ihm bar zurückgezahlt. Auch gegen Groenewold wird nun ermittelt - wegen möglicher Vorteilsgewährung.

Angesichts der neuen Dimension der Affäre stellt sich nun die Frage: Kann sich Wulff trotz der strafrechtlichen Ermittlungen weiter im Amt halten?

"Selbstverständlich gilt auch nach Bejahung des Anfangsverdachts die Unschuldsvermutung", betonen die Ermittler zwar in ihrer Mitteilung. Auch weisen sie darauf hin, dass es auch ihr Auftrag sei, "die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln". Darauf könnte sich Wulff berufen, wenn er vorerst im Amt bleibt. Er könnte auf die Prinzipien des Rechtsstaats verweisen, versprechen, das Verfahren in allen Belangen zu unterstützen - und am Ende auf eine nicht auszuschließende Einstellung des Verfahrens hoffen. Das Bundespräsidialamt war am Abend für eine Stellungnahme zunächst nicht zu erreichen.

Politischer Druck auf Wulff steigt

Doch der politische Druck auf den ersten Mann im Staat wird immer größer. Wulff dürfte wohl nicht allein über einen möglichen Rücktritt entscheiden. Entsprechende Forderungen aus der Opposition sind da für den Bundespräsidenten noch das geringste Problem. Entscheidender ist, wie lange die Koalition ihn noch stützt.

Ohnehin haben nur wenige aus den schwarz-gelben Reihen Wulff in den vergangenen Wochen noch mit Verve verteidigt. Und auch nach der Mitteilung der Ermittler vom Donnerstagabend blieben die meisten auf Tauchstation. Zu hören war in der Koalition aber, dass es nun eine "neue, schwierige Situation" gebe. Man wolle aber dem Bundespräsidenten erst die Gelegenheit zur Stellungnahme geben.

Dass die Aufhebung der Immunität des Staatsoberhaupts im Bundestag verhindert wird, gilt trotz schwarz-gelber Mehrheit als ausgeschlossen. Entscheiden wird darüber das Plenum des Parlaments, da der Bundespräsident nicht unter die generelle Genehmigung von Ermittlungsverfahren gegen Parlamentarier fällt, die der Bundestag zu Anfang jeder Legislaturperiode erteilt. Dies hat der zuständige Immunitätsausschuss in den vergangenen Tagen bereits geprüft.

Formal läuft das Verfahren so ab: Nachdem der Antrag der Strafverfolgungsbehörde beim Bundestagspräsidenten eingegangen ist, leitet dieser ihn an den Immunitätsausschuss weiter. Das 13-köpfige Gremium unter Vorsitz des CDU-Abgeordneten Thomas Strobl legt dem Bundestag eine Beschlussempfehlung vor, über die die Abgeordneten abstimmen. Strobl kündigte am Abend eine rasche Befassung im Ausschuss an. Ob dies aber erst in der nächsten Sitzungswoche des Bundestages sein wird, die am 27. Februar beginnt, war zunächst unklar.

Die Aufhebung der Immunität ist die Voraussetzung dafür, dass die Staatsanwälte wirklich ermitteln können, das heißt: Zeugen vernehmen, Akten anfordern, Büros durchsuchen. All das ist bisher ausgeschlossen, die Ermittler können Fernsehen schauen, Zeitung lesen, sonstige öffentliche Quellen begutachten - und sich einen Reim darauf machen. Oder eben auch nicht.

Staatsanwaltschaft ließ sich Zeit

In den vergangenen Wochen mussten sich die Hannoveraner Strafverfolger bereits viel Kritik anhören. Sie seien viel zu zurückhaltend, monierten renommierte Straf- und Staatsrechtler, bei jedem normalen Bürger wäre es längst zu einem Verfahren wegen Vorteilsannahme oder gar dem noch schwereren Vorwurf der Bestechlichkeit gekommen.

Doch dass sich die vier Staatsanwälte der Korruptionsabteilung trotz der mehr als hundert aus der Bevölkerung eingegangenen Strafanzeigen scheuten, Wulffs Immunität aufheben zu lassen, hatte Gründe: Es geht hier eben nicht um den Beamten vom Bauamt einer mittleren Kleinstadt, der angesichts der Geschenke eines Bauunternehmers schwach wurde. Es geht um den Bundespräsidenten, um das Ansehen des höchsten Staatsamtes, um eine politische Karriere. Lösen sich am Ende alle Vorwürfe in Luft auf, weil es keine Beweise gibt, müsste sich die Staatsanwaltschaft fragen lassen: War es das wert?

Umso schwerer wiegt nun die Entscheidung, den Schritt doch zu gehen. Einen Schuss ins Blaue werden die Ermittler in diesem Falle nicht wagen. Sie haben den Anfangsverdacht eindringlich geprüft, sie haben mit sich gerungen und sind nun zu dem Schluss gekommen: Nichts zu unternehmen, ist nicht mehr zu rechtfertigen. "Nach umfassender Prüfung neuer Unterlagen und der Auswertung weiterer Medienberichte" sehe man "nunmehr zureichende tatsächliche Anhaltspunkte und somit einen Anfangsverdacht", heißt es in der Mitteilung vom Donnerstagabend. Und vorsichtshalber betonen die Ermittler auch, dass sie ihre Entscheidung "unabhängig nach intensiver kollegialer Beratung getroffen" hätten. "Weisungen vorgesetzter Behörden hat es nicht gegeben", heißt es.

Ob die Korruptionsexperten aus Hannover schon jetzt mehr wissen als die über zahlreiche Details informierte Öffentlichkeit, ist ungewiss. Immerhin müssen sie belegen, dass Wulffs Freund Groenewold den gemeinsamen Sylt-Urlaub nicht nur vorstreckte. Sie müssen Wulffs Angabe widerlegen, dass er dem Filmemacher das Geld anschließend in bar zurückerstattete. Und sie müssen einen Zusammenhang zu der Vier-Millionen-Euro-Bürgschaft herstellen, die das Land Niedersachsen wenige Monate zuvor einer Filmfirma gewährte, an der Groenewolds Produktionsgesellschaft mehrheitlich beteiligt war.

Können die Ermittler ihren Anfangsverdacht erhärten und die Vorteilsannahme beweisen, droht Wulff laut Strafgesetzbuch eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe. Unklar ist, welche Bezüge Wulff nach einem möglichen Rücktritt erhalten würde. Experten streiten darüber, ob ihm überhaupt der Ehrensold in Höhe von 199.000 Euro zustünde, da der Rückzug nicht aus "politischen Gründen" erfolge. Am Ende müsste darüber wohl die Bundesregierung entscheiden.

Mitarbeit: Florian Gathmann


UPDATE: 17. Februar 2012


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16. Februar 2012 Donnerstag 7:31 PM GMT+1 


Erniedrigte und Beleidigte


AUTOR: Severin Weiland ; Philipp Wittrock


RUBRIK: GRIECHEN VS. DEUTSCHE


LÄNGE: 1118 Wörter



HIGHLIGHT: Griechenlands Präsident tobt, Zeitungen zeigen Angela Merkel in Nazi-Uniform, auf den Straßen Athens brennen deutsche Fahnen. Die Euro-Krise schürt Ressentiments, die das Projekt des vereinten Kontinents gefährden. Doch es gibt glücklicherweise auch Ausnahmen - mit Humor.; http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,815670,00.html


Berlin - Erst kürzlich beklagte sich Karolos Papoulias, 82, bitter über die Menschen in seinem Land. Demonstranten hatten ihn und andere Spitzenpolitiker am Nationalfeiertag Griechenlands angegriffen, aus Wut über das Sparregime. Der einst so angesehene Papoulias musste sich als "Verräter" und "Faschist" beschimpfen lassen. Unter Tränen erklärte der Politiker, der einst gegen die Nazi-Besatzer gekämpft hatte, vor den Medien: "Das tut weh."

Heute klingt der Präsident selbst wie ein Demonstrant auf dem Syntagma-Platz. "Ich kann nicht hinnehmen, dass Herr Schäuble mein Land beleidigt", zürnt Papoulias über die Vorgaben, die den Griechen bei der Bewältigung der Schuldenkrise gemacht werden. "Wer ist Herr Schäuble, dass er Griechenland kränkt? Wer sind die Niederländer? Wer sind die Finnen?" 

Die Äußerungen, aufgenommen bei einer Zusammenkunft mit griechischen Offizieren, sorgen in Berlin für Erstaunen. Man ist ja schon vieles gewohnt aus Athen, aber hier spricht immerhin das Staatsoberhaupt. Die Kanzlerin und der Bundesfinanzminister schweigen dazu. Es ist wohl das Beste in einer ohnehin aufgeheizten Lage. Und so wird das Ganze einfach heruntergedimmt. "Die Bundesregierung hat großen Respekt vor dem griechischen Volk und seiner Regierung, die sich schweren Aufgaben gegenübersehen", heißt es in Regierungskreisen.

Während man ganz oben um Mäßigung bemüht ist und zu diplomatischen Formeln greift, kommt der Ausfall des griechischen Staatspräsidenten in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bei einigen weniger gut an. CDU-Kollege Wolfgang Bosbach sagt: "Das ist ein neuer negativer Höhepunkt der Kritik an Deutschland und anderen stabilitätsorientierten Ländern in der Euro-Zone."

Doch insgesamt lautet die Devise in Berlin: Bloß nicht eskalieren lassen. Außenminister Guido Westerwelle, gerade auf Lateinamerikareise in Peru angekommen, appelliert an die griechischen politischen Führer, sich nicht eskalierend in eine solche Debatte einzubringen. "Mäßigung ist das Gebot der Stunde", so der Liberale. "Die Kritik ist unverständlich", bemüht sich auch FDP-Generalsekretär Patrick Döring um Zurückhaltung. Die Bürger Europas müssten darauf bestehen, dass über den Wahltag hinaus die von der griechischen Regierung gegebenen Zusagen eingehalten werden. "Auf diese Sorge der europäischen Partner sollte Staatspräsident Papoulias reagieren und auf einen politischen und gesellschaftlichen Konsens in Griechenland hinwirken - und nicht die Besorgnis der europäischen Partner einfach vom Tisch wischen", so der Liberale.

Der kürzlich ins Amt gewählte neue Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), ruft ebenfalls zur Zurückhaltung auf. "Niemand sollte von oben herab die Griechen belehren oder demütigen, die in den vergangenen Wochen schmerzhafte Einsparungen vorgenommen haben". Die Deutschen seien solidarisch mit Griechenland. Im ureigenen Interesse müsse man die gemeinsame Währung verteidigen und Griechenland mit einem Wachstumspaket die Chance geben, dass das Land sich aus eigener Kraft aus dieser dramatischen Wirtschaftskrise selbst befreien könne. "Mit gegenseitigen verunglimpfenden und verletzenden Vorwürfen muss jetzt endlich Schluss sein", so der Sozialdemokrat.

Die alten Bilder sind wieder da

Der Ausfall Papoulias' ist symptomatisch für die Stimmung in Teilen Europas. Die Krise um den Euro führt zu Reaktionen, die man längst für überwunden hielt. Deutsche Fahnen werden in Athen verbrannt, Merkel wird als Hitler auf Demonstrationen und in Zeitungen karikiert. Dabei glaubten sich viele in Europa noch bis vor kurzem weiter. Allenfalls in britischen Boulevardmedien schien sich noch eisenhart das Stereotyp von deutschen Panzern zu halten, die im Fußball alles überrollen. Plötzlich aber sind sie wieder da, die Vorurteile: Hier die "faulen" Südeuropäer, die das hart erarbeitete Geld des Nordens verprassen, dort die dominanten Deutschen.

Europa bietet in der Euro-Krise ein gespaltenes Bild. Dabei sollte Europa eigentlich mit dem Euro immer mehr zusammenwachsen, die gemeinsame Währung "die Einheit Europas unumkehrbar machen", wie einst Kanzler Helmut Kohl, einer der Väter des Euro, hoffte.

Nun geht es munter durcheinander in Europa. Unionsfraktionschef Volker Kauder sorgte mit dem Satz, in Europa werde Deutsch gesprochen, für Aufregung und meidet seitdem solche missverständlichen Sätze. In Frankreich wiederum entdeckt Staatspräsident Nicolas Sarkozy seine Vorliebe für das "deutsche Modell" und wird deswegen mit Hohn und Spott bedacht. Ein Hit ist im anlaufenden Wahlkampf in Frankreich ein Film, der aus Sequenzen besteht, in denen Sarkozy den mächtigen Nachbarn preist und lobt.

Stereotype mit Humor

"Von einer kollektiven Identität ist Europa weit entfernt", schrieb die "Neue Zürcher Zeitung" und stellte fest, Feindbilder lenkten vom eigenen Versagen ab und stifteten Gemeinschaft. "Schuld ist sicherlich der Volkscharakter", überschrieb das angesehene Blatt ironisch den Artikel. Das Spiel mit Vorurteilen - nur ein Zeitvertreib demagogischer Populisten von Rechts bis Links und ein nützliches Instrument für aufgeregte Medienberichterstattung? Manchen in Europa ist unwohl dabei, etliche warnen bereits vor einer Renationalisierung. Zuletzt tat dies eindringlich Italiens neuer Ministerpräsident Mario Monti. Die Euro-Krise, erklärte er, habe zu vieleRessentiments aufkommen lassen, zu viele Stereotype und zu viele Trennungen, in Norden und Süden, Zentralstaaten und Randstaaten. "Alle diese Klassifizierungen sind abzulehnen", rief er den Abgeordneten des Europaparlamentes zu.

Doch nicht alles, was europaweit gespielt, demonstriert und gesagt wird, ist ernst gemeint. Humor kann mitunter ein Ventil sein - und zeigen, dass etwa auch die sonst angeblich so spaßfreien Deutschen mit den Vorurteilen über sich selbst umgehen können. Jüngst interviewte der deutsche Satiriker Martin Sonneborn für die ZDF-Sendung "heute-show" im EU-Parlament in Brüssel Abgeordnete aus Belgien, Griechenland und Luxemburg - als stramm durch die Gebäude marschierender Journalist mit Hitlerbärtchen und Seitenscheitel. Sein Motto: "Mehr Deutschland für Europa, mehr Deutschland in Europa, ein deutsches Europa". Und stellte am Ende seiner "deutschen Charmeoffensive" fest, es sei "höchste Zeit, mit 20.000 bis 30.000 Obersparführern in die heruntergewirtschafteten Nachbarländern einzumarschieren".

Auch in Athen haben sie die Selbstironie nicht verlernt. Dort wird höchst erfolgreich ein Bühnenstück gespielt, in der eine Figur mit einer Maske der deutschen Kanzlerin das Publikum als "faul" beschimpft. Und das Publikum wiederum zurückschimpfen darf. Der Titel verspricht den gebeutelten Griechen in der Krise immerhin eines - befreiende Wirkung.

Er lautet: "Psychotherapie mit Merkel".


UPDATE: 17. Februar 2012


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15. Februar 2012 Mittwoch 6:24 AM GMT+1 


Untergang des roten Kampfblatts


AUTOR: Hans-Jürgen Schlamp


RUBRIK: "IL MANIFESTO"


LÄNGE: 1048 Wörter



HIGHLIGHT: "Il Manifesto" war Italiens traditionsreiche kommunistische Tageszeitung und Leitmedium der Eurokommunisten. Jetzt steht das Blatt vor der Pleite. Die Leser sind geflohen, die staatlichen Subventionen wurden gekürzt und die alten Feindbilder funktionieren schon lange nicht mehr.; http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,814876,00.html


Loredana, 51, ist "sehr sehr traurig". Die römische Lehrerin liest die Zeitung "seit ich denken kann". Auch Ehemann Roberto, 58, trägt Trauer im Gesicht. "Eine Ära geht zu Ende", sagt er. Danach sieht es wohl aus. Denn "Il Manifesto" war nicht nur das wohl wichtigste Organ der italienischen Linken. Auch unter deutschen und französischen Intellektuellen war es angesagt, "den Manifesto" zu zitieren. Die Zeitung war klein aber wichtig. Nun ist sie in Liquidation. Total überschuldet.

Noch hoffen die Redakteure, dass ein Wunder geschieht. Dass die verbliebenen etwa 16.000 Leser mit viel Geld einspringen. Dass über Nacht viele neue Käufer ihr Blatt abonnieren oder am Kiosk verlangen. Oder dass der Staat mit großzügigen Zuschüssen einspringt. Die Aussichten für all diese Optionen sind eher düster. Das Ende eines politischen Experiments ist absehbar: Die Zeit hat sich verändert, die Zeitung nicht - auf Dauer geht das nicht gut. 

Don Camillo und Peppone

1971 erschien "Il Manifesto" erstmals als Tageszeitung. Zuvor hatte es das Blatt zwei Jahre lang als Monatsheft gegeben. Italien war damals seit über zwei Jahrzehnten politisch zweigeteilt: Rechts gab es die Christdemokraten (DC), links die Kommunisten (KPI) - so wie man es aus den Komödien um "Don Camillo und Peppone" kennt. Im Roman und im Film war es wie im richtigen Leben: Die intriganten Christen gewannen meist, aber die Betonkopf-Kommunisten waren auch stark.

Die KPI war die größte kommunistische Partei der westlichen Welt. Und die war "bei unserem Entstehen gewissermaßen unser Gegenüber", erzählte Chefredakteurin Norma Rangeri im "taz"-Interview. "Wir wollten deutlich machen, dass man kommunistisch sein konnte, ohne für die Sowjetunion Partei zu ergreifen", dass man auch als Kommunist "eine libertäre Einstellung" haben kann.

Die Rosa Luxemburg der siebziger Jahre

Die Zeitungsgründer waren 1969 aus der KPI ausgeschlossene Parteifunktionäre um den Journalisten Luigi Pintor und die Schriftstellerin Rossana Rossanda, "die Rosa Luxemburg der siebziger Jahre", wie viele sie nannten. Alle waren überzeugte Kommunisten, die gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei protestierten und mit der Studentenbewegung von 1968 sympathisierten. Für die Hardliner waren sie deshalb Abweichler und flogen raus. "Das werden die Brüder bitter bereuen", zürnte Rossana Rossanda und kündigte Rache an: "Wir werden nicht ihre Lungenentzündung, sondern das schleichende Fieber ihrer Malaria sein." Und sie sollte recht haben. Denn für die nicht verbohrte Linke war das neue Organ die langersehnte Plattform für offene Diskussionen.

Die Auflage stieg rasch auf 45.000 Exemplare täglich, eine Sensation für italienische Verhältnisse. Anzeigen gab es kaum, aus Geldmangel waren auch keine Nachrichtenagenturen abonniert, die Blattmacher mussten alles selbst recherchieren und eigene Themen setzen. Das gelang ihnen so gut, dass die brave Parteizeitung der KPI - die "l'Unita", übersetzt: Die Einheit - vor den frechen Kritikern warnen musste: "Misstraut dem neuen Blatt! Es will nur zerschlagen, was sich in Italien in hartem Ringen links aufgebaut hat."

Doch die Intelligenz flog auf "Il Manifesto". Der linke Zeitgeist hatte ein Zuhause gefunden. Für die Leserschaft waren die konservativen Linken "Bourgeois der letzten Garnitur", wie "Il Manifesto" schrieb. Der neue "Eurokommunismus" wurde hier mitentwickelt, der Versuch, Kommunismus und bürgerliche Freiheiten zu vereinen. Viele Geistesgrößen schrieben regelmäßig Artikel und Diskussionsbeiträge, etwa Umberto Eco, Wissenschaftler und später Weltbestseller-Autor ("Der Name der Rose").

Nach der Wende kam das Ende

Aber der Aufstieg war nicht dauerhaft. 1989 brach der "real existierende Sozialismus" zusammen. In Ostberlin wie in Moskau. Und von da an ging es bergab mit der organisierten Linken und mit ihren Blättern. "Il Manifesto" verlor mit dem Zerfall der KPI nicht nur das Feindbild für die tägliche Arbeit, sondern bald auch die politische Orientierung. Das Zeitungskollektiv und seine schrumpfende Leserschaft träumten noch von der bevorstehenden Revolution, als die - ohnehin stets bescheidenen - "Arbeitermassen" und die Studenten sich längst davon verabschiedet hatten.

Nach den Wahlen im Jahre 2008 saß zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg kein Kommunist im italienischen Parlament. Nur "Il Manifesto" hielt an seinem proletarischen Signal auf der Titelseite fest, "Kommunistische Tageszeitung" steht da bis heute. Doch aus einem Blatt das politisch einst einiges bewegt hat, ist ein Blättchen geworden, für ein paar Genossen unter sich.

"Heute sind wir vielleicht wichtiger denn je", machte sich Chefredakteurin Rangeri vergangenes Jahr, beim 40. Geburtstag der Zeitung, noch Mut. "Denn wir sind der Ort geblieben, an dem alle aus der zerstrittenen und gespaltenen Linken miteinander kommunizieren können." Das allerdings machen die meisten Menschen heute viel lieber übers Internet.

Zuschüsse vom Klassenfeind

So kam es, dass die Zeitung am Ende nur noch durch Subventionen der Regierung von Silvio Berlusconi überlebte. Etwa drei Millionen Euro erhielt das Kommunistenblatt jährlich vom erklärten Kommunistenhasser. Auch andere italienische Zeitungen, vor allem kleine Regional-, Partei- oder Gewerkschaftsblätter, hängen am staatlichen Tropf.

Und der wurde erst von Berlusconi und nun von dessen Nachfolger Mario Monti kräftig zugedreht, von 175 auf 50 Millionen Euro. Zudem werden die öffentlichen Gelder erst im Nachhinein berechnet und bezahlt. Für "Il Manifesto" bedeutete dies, dass statt drei nur noch eine Million aus der Steuerkasse kommt. Und das reicht wohl nicht, um die Schulden abzudecken. Etlichen Zeitungen, links wie rechts, geht es ähnlich.

Enttäuscht attackiert Chefredakteurin Rangeri deshalb die Politik. "Sie töten den Pluralismus!", sagt sie und erhofft eine breite Protestbewegung im Volke. Da ist nicht in Sicht. Denn selbst die kleine Trauergemeinde der verbliebenen "Il Manifesto"-Leser ahnt, dass die Uhr für das Siebziger-Jahre-Experiment abgelaufen ist.

"In der letzten Zeit", sagt deren Mitglied Loredana, hätte sich der Zeitungsinhalt immer mehr "von der realen Welt abgekoppelt". Arbeiter und andere Menschen ohne Hochschuldiplome hätten die Texte ohnehin schon lange nicht mehr verstehen können, so kompliziert seien die gewesen.


UPDATE: 15. Februar 2012


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13. Februar 2012 Montag 12:41 PM GMT+1 


Berlin plant Stresstests für alle Zwischenlager


RUBRIK: ATOMMÜLL


LÄNGE: 421 Wörter



HIGHLIGHT: Durchgerostete Fässer, undichte Stollen - die Bundesregierung will alle atomaren Zwischenlager in Deutschland einem Stresstest unterziehen. Geprüft werden sollen auch die möglichen Folgen eines Flugzeugabsturzes. Ende des Jahres werden Ergebnisse vorliegen.; http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/0,1518,814932,00.html


Berlin - Das marode Bergwerk Asse bereitet Experten immer größere Sorgen. Schließlich lagern in den teils einsturzgefährdeten Stollen rund 126.000 mitAtommüll gefüllte Fässer, die wohl wieder geborgen werden müssen. Die Bundesregierung will nun sämtliche atomaren Zwischenlager in Deutschland einem Stresstest unterziehen. Dies geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion hervor. 

Die Entsorgungskommission (ESK) untersuche "alle Einrichtungen für die Aufbewahrung bestrahlter Brennelemente in Transport- und Lagerbehältern", heißt es in dem Schreiben des Umweltministeriums an die Abgeordnete Sylvia Kotting-Uhl. Überprüft werden soll demnach ausdrücklich auch das Risiko bei einem Flugzeugabsturz.

Ein Kriterienkatalog für den Stresstest wird nach Angaben des Ministeriums von der ESK derzeit erarbeitet. Bevor die eigentliche Untersuchung beginnen kann, muss zudem noch die Frage geklärt werden, welche Sachverständigen den Prozess begleiten. Das Ergebnis der Überprüfung soll voraussichtlich Ende des Jahres vorliegen.

Kritik der Grünen am Verfahren

Atomare Abfälle befinden sich unter anderem in der Asse und in Morsleben. Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und bestrahlte Brennelemente werden zunächst nahe der Atomkraftwerke gelagert. Ein Endlager für stark strahlende atomare Abfälle gibt es in Deutschland bislang nicht. Bei der Suche danach sollen die Bürger aktive Mitspracherechte bekommen, hat Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) versprochen.

Kotting-Uhl kritisierte das Tempo der Vorbereitungen für die geplanten Stresstests. Bislang verliefen diese "eher unstressig und gemächlich", sagte sie. "Es wird Zeit, dass jetzt wenigstens einmal der Fragenkatalog auf den Tisch kommt", fügte sie hinzu. Seit der Rücknahme der Laufzeitverlängerung sei bei der Bundesregierung die Luft raus. Zugleich beklagte sie, dass die Kriterien des AKW-Stresstests zu lasch gewesen seien und forderte eine strengere Grundlage für die Sicherheitsüberprüfung der Zwischenlager.

In den Stresstest sollen "nach bisheriger Einschätzung" unter anderem auch "Einrichtungen für die Be- und Verarbeitung" einbezogen werden, zu denen insbesondere die Landessammelstellen gehören, in denen Abfälle aus Industrie, Forschung und Medizin gelagert werden. Die Abklingbecken der Atomkraftwerke werden hingegen von der Reaktorsicherheitskommission untersucht.

Hinweis: Im Schacht Konrad lagert bislang noch kein Atommüll, die Anlage wird derzeit für eine künftige Einlagerung vorbereitet.

hda/dapd


UPDATE: 13. Februar 2012


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13. Februar 2012 Montag 6:37 AM GMT+1 


Der heilige Stich


AUTOR: Kolja Nolte


RUBRIK: TATTOO-TEMPEL IN THAILAND


LÄNGE: 1138 Wörter



HIGHLIGHT: Die buddhistischen Mönche des Tempels Wat Bang Phra sind Künstler der Nadel: Sie ritzen den Gläubigen magische Tattoos in die Haut, die ihre Wirkung nach einem Gebet entfalten sollen. Im Westen bekannt wurden die Sticheleien durch Angelina Jolie - seitdem ist der Andrang riesig.; http://www.spiegel.de/reise/fernweh/0,1518,813024,00.html


Der Meister ist zu Späßen aufgelegt an diesem Nachmittag. "Die Krokodile sind während der Flut ausgebrochen", erzählt er, während er in seinem schwarzen Ledersessel sitzt und mit ruhigen, präzisen Bewegungen die Nadel in Somchais Haut sticht. "Alle 30. Nur fünf konnten wieder eingefangen werden. Aber keine Angst, sie beißen keine Menschen." Luang Phituk tunkt die stählerne Spitze in einen Klecks Tinte und führt sie zurück zu Somchais Rücken. "Sie essen sie nur."

Alle im Raum lachen, die zwei Helfer, die daneben stehen und Somchais Haut spannen, die Zuschauer, die im Schneidersitz auf dem Boden sitzen - sogar Mönch Phituk selbst, der für einen kurzen Moment die Nadel vom Rücken nehmen muss, da er sie vor lauter Lachen nicht ruhig halten kann. 

Nur Somchai lacht nicht. Er sitzt auf einem umgedrehten roten Plastikstuhl mit dem Rücken zum Mönch, den Kopf hinter seine verschränkten Arme vergraben, die er auf die Lehne gelegt hat. Es ist nicht das erste Mal, dass er sich im Wat Bang Phra - im "Tempel der wenigen Mönche" - tätowieren lässt. Und vielleicht ist genau das auch der Grund für seine Schmerzen: Allein neun sak yant verzieren den Rücken des 30-Jährigen, jene heiligen Tattoos, die dem Träger Eigenschaften wie Stärke, Ausdauer oder sogar Schutz vor Gewehrkugeln verleihen sollen.

Man sieht geometrische Formen, Tempelspitzen und Schriftzeichen, manche ineinander verschlungen und miteinander verbunden. Eigentlich unmöglich zu beschreiben, aber Somchais Freund und Luang Phituks heutiger Helfer Kai will es versuchen.

Bezahlt wird mit Kerzen und Zigaretten

"Dies sind die gao yord ", erklärt er und zeigt auf Somchais Nacken, auf dem etwas abgebildet ist, das die Form einer Pyramide hat. Übersetzt heiße es "Neun Spitzen", womit der Berg Meru gemeint sei, der in der buddhistischen Kosmologie als Zentrum des Universums gilt. "Sie bringen Glück und sind zusammen mit den ha teaw , den 'Fünf heiligen Linien', eines der beiden Tattoos, auf denen alle anderen aufbauen." Rechts daneben prangt das pae tidt , die "Acht Richtungen": "Das gibt Schutz, ganz egal, in welche Richtung man geht."

Bis vor wenigen Jahren wurden die magischen Tattoos noch mit Bambusnadeln gestochen. Inzwischen benutzen jedoch alle Mönche im Wat Bang Phra Nadeln aus Stahl - und lösen damit eine Jahrhunderte alte Tradition ab. "Es ist einfach eine Weiterentwicklung", sagt Thiraphat Michut, ehrenamtlicher Mitarbeiter des Wat. Die Qualität der Tattoos sei besser, außerdem ließen sich die Stahlnadeln leichter säubern. "Auch Tempel dürfen Fortschritte machen."

Die Rezeptur der Tinte aber hüten die Mönche wie Magier ihre Zaubertricks. Berichte reichen von gewöhnlicher Tätowierfarbe bis hin zu bizarren Mixturen aus Kerzenruß, Kräutern und dem blauen Blut von Tintenfischen.

Von 6 Uhr bis zum späten Nachmittag wird in dem Tempel in der Provinz Nakhon Pathom, 60 Kilometer von Bangkok entfernt, tätowiert - jeden Tag. Unterbrochen werden die Sitzungen nur von den Schlafens- und Essenszeiten der Mönche. In dieser Zeit kommen durchschnittlich bis zu 50 Besucher, verteilt auf drei Geistliche.

Doch nicht jeder verlässt den Tempel auch wirklich mit einem sak yant : "Es gibt keine Termine", sagt Michut. "Jeder kommt dran, wann es eben passt." Bezahlt wird mit einer Spende an den Wat: eine Kerze, eine Tempelblüte und eine Zigarettenschachtel der thailändischen Marke Falling Rain 90.

"Das untergräbt den Respekt vor der Religion"

Der Andrang ist groß, für viele der Besucher in dem mit unzähligen Buddha-Statuen geschmückten Warteraum ist es wie für Somchai nicht das erste Mal. Die meisten sind jedoch Europäer und Amerikaner, was ausgerechnet der Regierung immer mehr ein Dorn im Auge ist. "Für viele Ausländer sind diese Art von Tattoos schlicht Mode", schrieb Thailands Kulturminister Niphit Intharasombat bereits im Juni 2011 in einer Erklärung auf der Website des Ministeriums. "Das ist kulturell nicht angemessen und untergräbt den Respekt vor der Religion."

In der Tat sind sak yant längst ein beliebtes Motiv in den thailändischen Tattoo-Studios. Die Preise bewegen sich je nach Größe und Motiv zwischen 25 und 75 Euro, aktivieren lassen könne man sie laut Studio-Besitzer Suphat Chaisit wie die originalen Wat-Bang-Phra-Tattoos im Tempel.

Dass die heiligen Motive für die Thais mehr sind als nur ein weiterer Modetrend, zeigt sich schon bei den Pflichten, die mit jedem Tattoo einhergehen: "Damit die sak yant ihre Wirkung behalten", erklärt Luang Phituk, "muss jeder Träger die fünf Sittlichkeitsregeln, die silas , einhalten: nicht töten, nicht stehlen, kein sexuelles Fehlverhalten betreiben, nicht lügen und keine Drogen nehmen."

Zudem müsse das heilige Tattoo jedes Jahr im März beim Wai Khru wiederaufgeladen werden - bei einem Fest, das übersetzt "den Lehrer ehren" heißt und noch aus einer Zeit stammt, in der Mönche an Schulen unterrichteten. Gerade dieses Fest, bei dem die Tätowierten nicht selten in einen Zustand aus Trance und Ekstase fallen und sich vor versammelter Menge wie Raubtiere gebärden, macht jedes Jahr wieder auf den Tattoo-Tempel aufmerksam.

Gebet und Luftstoß aktivieren das Tattoo

Im Westen bekannt wurde das sak yant - und mit ihm der Tätowierer Ajarn Noo - aber erst, nachdem Angelina Jolie eigens nach Thailand reiste, um sich eines der magischen Tattoos stechen zu lassen. Noo war es, der dem Hollywoodstar im Jahr 2003 ein ha taew auf das linke Schulterblatt stach und wenige Jahre später einen 30 Zentimeter großen Tiger auf den Rücken.

Inzwischen ist Noo so etwas wie ein Superstar in der sak-yant -Szene, so gut wie jeder Tätowierer in Bangkok und Umgebung kennt ihn. Und jeder, der ihn kennt, weiß auch über seine Preise Bescheid: Ein gewöhnliches ha taew , das im Wat Bang Phra für umgerechnet 1,10 Euro zu haben ist, geht bei dem Tattoo-Superstar demnach ab 800 Euro los. Deswegen gehören zu seinen Kunden hauptsächlich Ausländer mit dem nötigen Reisebudget und wohlhabende Thais wie beispielsweise die Schauspielerin Chompoo Araya.

Preise, für die Somchai nur ein enttäuschtes Kopfschütteln übrig hat. Sein Tattoo ist indes fertig, der Meister zieht die Nadel einmal durch einen Eimer mit altem Tintenwasser und steckt sie dann in eine Flasche Desinfektionsmittel. Somchai schiebt den Stuhl zur Seite, setzt sich auf einen Hocker und faltet die Hände zum thailändischen Gruß Wai, während Luang Phituk erst auf die gerötete Haut pustet und anschließend ein kaum hörbares Gebet murmelt. Erst jetzt ist das heilige Tattoo aktiviert, erst jetzt kann er auf die versprochenen Kräfte hoffen.

Das Motiv für sein nächstes sak yant weiß Somchai schon jetzt: ein klaeo klad , das ihm bei Unfällen vor schwerwiegenden Verletzungen schützen soll. Jetzt muss er aber nach Hause, er hat seiner Frau versprochen, heute noch mit ihr einkaufen zu fahren. "Davor schützen leider auch keine sak yant ", sagt er und lächelt.


UPDATE: 13. Februar 2012


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


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Der Spiegel


13. Februar 2012


Weiter so, Griechenland?


AUTOR: Böll, Sven; Hesse, Martin; Heyer, Julia Amalia; Hickmann, Christoph; Müller, Peter; Neukirch, Ralf; Reiermann, Christian; Sauga, Michael; Seith, Anne


RUBRIK: DEUTSCHLAND; EURO-KRISE; S. 20 Ausg. 7


LÄNGE: 3356 Wörter



HIGHLIGHT: Athen bekommt die nächsten Hilfsmilliarden, doch das Unbehagen wächst. In den Straßen des Pleitestaats eskalieren die Proteste, Berlin und Brüssel zweifeln zunehmend an der eigenen Rettungsstrategie. Es wird Zeit für einen Plan B.


Einen geeigneteren Ort, um für ihre Griechenland-Politik zu werben, hätte die Kanzlerin kaum finden können. Angela Merkel sitzt auf einem breiten Ledersessel im Berliner Neuen Museum, in dem viele alte Schätze ausgestellt sind. Hinter ihr streben antike Säulen in die Höhe, was der Szenerie einen Hauch von Akropolis verleiht.

Es ist Dienstag der vergangenen Woche, eine Stiftung hat zur Diskussion über Europas Zukunft geladen. Eine junge Frau steht auf, sie studiert in Deutschland und bezeichnet sich als "verzweifelte Vertreterin einer jüngeren griechischen Generation". Natürlich würde sie nach dem Studium gern in ihre Heimat zurückgehen, sagt sie. "Doch wenn ich in Athen nach Arbeit frage, bekomme ich nur Jobs in Deutschland angeboten."

Merkel nickt. Die Lage in Griechenland sei "extrem schwierig", sagt sie, doch eine Währungsunion ohne den hochverschuldeten Staat kann sich die Kanzlerin nicht vorstellen. "Ich will, dass Griechenland den Euro behält", sagt sie. Und dann gibt Merkel, ungefragt und unmissverständlich, eine Art Garantie-Erklärung für die Hellenen ab. "Ich werde mich nicht daran beteiligen, Griechenland aus dem Euro zu drängen", sagt sie. "Das hätte unabsehbare Folgen." 

Es sind deutliche Worte am Beginn einer Woche, in der den Euro-Rettern die Regie über ihr Drama mal wieder gründlich entglitten ist. Eigentlich wollten sie ihren skeptischen Bürgern endlich einen überzeugenden Griechenland-Plan präsentieren: ein tragfähiges Konzept für die Sanierung des Schuldenstaates und eine Bekräftigung des Willens, die Währungsunion in ihrer heutigen Form um jeden Preis zu erhalten.

Stattdessen gibt es nun bestenfalls die Umrisse eines Programms zu besichtigen, an das nicht einmal mehr seine Erfinder glauben mögen. Bei Europas Finanzministern wächst die Skepsis bezüglich Griechenlands Reformfähigkeit, die Beteiligung privater Gläubiger steht weiter auf der Kippe, und im politischen Berlin verstärken sich die Zweifel an der bisherigen Rettungsstrategie genauso wie unterden Parteien Athens. Vergangene Woche erklärte der kleinste der drei hellenischen Koalitionspartner, er stehe für das Sanierungsbündnis nicht mehr zur Verfügung.

Jetzt rächt sich, dass sich Europas Regierungschefs zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und dessen Präsidentin Christine Lagarde bis heute auf keine wirksame Therapie für den griechischen Patienten verständigen konnten. Ein Austritt Athens aus der Euro-Zone soll wegen seiner unkalkulierbaren Folgen unbedingt vermieden werden. Doch wie der hochverschuldete Staat innerhalb der Währungsunion gesunden kann, ist unklar.

Das neue Programm jedenfalls, das die Euro-Retter vergangene Woche mit den Athener Parteien aushandelten, scheint dazu kaum geeignet. 130 Milliarden Euro erhält das sieche Land, doch der gewaltige Geldbetrag macht die Sanierung des Landes nicht zwangsläufig leichter. Zwar wird der untragbare Schuldenberg verkleinert, aber das allein wird kaum helfen. Und während Athens Regierung erneut Löhne, Renten und staatliche Ausgaben kürzt, lässt sich nicht einmal in Ansätzen erkennen, wie das Land nach diesem Rezept wieder auf Wachstumskurs kommen will. Weiter so, Griechenland, lautet im Kern Europas Sanierungsstrategie.

Doch nach zweijährigen Bemühungen glaubt kaum noch jemand, dass auf diesem Weg die Krise zu bewältigen ist, weder in Athen noch in Brüssel oder Berlin. Hinhalten, zögern, streiten - Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) macht schon lange keinen Hehl mehr daraus, wie sehr ihn das Parteiengeschacher in Athen nervt. Und Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker fiel auf die Frage, ob er und seine Kollegen mit Griechenland langsam die Geduld verlören, nur die denkbar knappste Antwort ein: "Ja."

In der vergangenen Woche liefen Athens Parteiführer, die Ministerpräsident Loukas Papademos in seinen Amtssitz geladen hatte, wieder zu Hochform auf. Ursprünglich sollten sie ihre Unterschriften schon zu Wochenbeginn unter das neue Sparprogramm setzen. Am Donnerstagvormittag, die Finanzminister der Partnerländer machten sich schon auf den Weg nach Brüssel, hatten sie sich immer noch nicht geeinigt.

Die Helfer waren verstimmt, allen voran Schäuble. Wäre es nach dem deutschen Finanzminister gegangen, wäre der Euro-Gipfel geplatzt, doch die meisten seiner Kollegen beharrten auf dem Treffen. Dennoch war ziemlich schnell klar: An diesem Abend würde nichts entschieden. "Sie brauchen gar nicht auf heute Nacht zu warten, denn es wird keine Ergebnisse geben", sagte Schäuble den Journalisten bei seiner Ankunft vor dem Brüsseler Ratsgebäude.

Tatsächlich war die Ministerrunde gar nicht beschlussfähig, wichtige Unterlagen fehlten. Der Entwurf über den Schuldenverzicht der privaten Banken lag noch nicht vor, die Übereinkunft über die dringlichsten Sanierungsmaßnahmen ebenso wenig. Und die drei Athener Parteiführer hatten nicht schriftlich erklärt, dass sie über Wahlen hinweg an den Beschlüssen festhalten wollen. Vor allem aber: Die Griechen hatten noch gar keinen Antrag auf neue Finanzhilfen gestellt.

Entschieden werden soll nun am Mittwoch dieser Woche. Doch dass ihnen mit ihrem zweiten Sparpaket der große Wurf gelungen ist, behaupten nicht einmal die Finanzminister. Die Lösung des Griechenland-Problems ist keine Frage von 10, sondern eher von 20 Jahren.

Die Annahmen, auf denen ihr Plan beruht, haben sich längst als hoffnungslos optimistisch erwiesen. So gehen die Rettungspolitiker davon aus, dass die griechische Wirtschaft schon bald wieder wächst. Angesichts der harschen Auflagen und Sparbeschlüsse erscheint das fraglich. Die Kürzungen bei Gehältern und Sozialausgaben lassen die Nachfrage schwinden, die Wirtschaft schrumpft weiter, worauf die Steuereinnahmen nochmehr zurückgehen, weshalb aufs Neue gespart werden muss.

Das Schuldenproblem würde so nicht wirklich gelöst, zumal noch immer unsicher ist, in welchem Umfang sich die privaten Gläubiger an dem neuen Rettungspaket beteiligen. Zwar hat sich der Internationale Bankenverband IIF mit Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann an der Spitze mit Athen auf die Grundzüge eines freiwilligen Forderungsverzichts geeinigt. Doch bis Freitag hieß es aus Verhandlungskreisen, wichtige Details seien weiterhin offen.

Die privaten Gläubiger sollen insgesamt 70 bis 75 Prozent ihrer Forderungen abschreiben. Sie erhalten für einen Teil ihrer Ansprüche neue Staatsanleihen mit längeren Laufzeiten und deutlich niedrigeren Zinsen, die mit Garantien des europäischen Rettungsfonds abgesichert werden. Das erhöht den Anreiz für Gläubiger, sich am Umtausch zu beteiligen.

Dennoch ist offen, ob schließlich genug Investoren mitmachen. Nur wenn etwa 90 Prozent der Anleger einwilligen, wird das Ziel erreicht, Griechenland durch den Schuldenschnitt um rund hundert Milliarden Euro zu entlasten. Nach Angaben aus Finanzkreisen sperren sich aber vor allem Hedgefonds nach wie vor gegen einen Umtausch. Sie haben sich gegen eine Griechen-Pleite abgesichert und würden von einer Insolvenz des Landes profitieren.

Die internationalen Anleger zögern noch, den neuen Plan anzunehmen. In der Bevölkerung des Schuldenstaats ist das Urteil dagegen klar: Die Griechen, so scheint es, wollen nicht mehr gerettet werden. Nicht mit noch niedrigeren Mindestlöhnen, nicht mit weiter gekürzten Renten.

Noch während die Verhandlungen liefen, empfahl die Website der Zeitung "To Vima", sie "sofort abzubrechen" und ein Alternativkonzept "mit den USA auszuhandeln". Griechenland, hieß es, habe "immer noch die Kraft, alles in die Luft zu sprengen" - das sei "der einzige Weg, der bleibt".

Als wollten sie dem radikalen Rat Nachdruck verleihen, zogen Ende vergangener Woche Tausende Demonstranten in langen Protestzügen durch das Zentrum Athens, an einem Bäumchen auf dem Syntagma-Platz hing, weithin sichtbar, ein Banner mit der Aufschrift "Wir haben es satt, wir machen nicht mehr mit".

So sehen das inzwischen nicht nur die notorischen Nörgler im Land, sondern auch diejenigen, die den Reformprozess unterstützen, so wie Dimitris Daskalopoulos, der Chef der griechischen Industriellenvereinigung SEV. Er war selbst schon Ziel von Farbbeutel-Attacken der Radikalen. Nun sitzt er nicht weit vom Syntagma-Platz in seiner Verbandszentrale, geschützt von Zugangscodes und Sicherheitsschleuse, und sagt: "Die Politik der Troika hat versagt." Sein Verband vertritt jetzt mitunter dieselben Positionen wie die Gewerkschaften - vor kurzem noch war das undenkbar.

Zum Beispiel was die Lohnkürzungen im Privatsektor angeht. Laut neuem Vertrag verpflichten sich die Griechen, den Mindestlohn um 22 Prozent zu senken, von 751 Euro auf 568 Euro. Auch die Abschaffung des 13. und 14. Monatsgehalts im Privatsektor ist im Gespräch.

Das Problem in Griechenland seien aber nicht die Löhne und Gehälter, sagt Daskalopoulos. Es sind die Strukturen, die das Land zum Sonderfall machen. Die Troika habe versagt, die von ihr geforderten Reformen bei den Politikern durchzusetzen. "Ein Armutszeugnis", sagt Daskalopoulos.

Tatsächlich kommt die Öffnung des Arbeitsmarkts so gut wie nicht voran, und der Erlös der Privatisierungen liegt weiter hinter den Vorgaben zurück. Fünf Milliarden Euro sollten 2011 durch den Verkauf von Staatseigentum eingenommen werden, gerade mal 1,7 Milliarden sind es geworden. Was weder die Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF noch die griechische Regierung daran hindert, die Ziele für 2012 unvermindert hochzustecken. Zehn Milliarden sollen die Griechen in diesem Jahr durch Privatisierungen einnehmen, fünf Milliarden allein im ersten Quartal, so der Plan.

Obwohl ein Steuergesetz nach dem anderen verabschiedet wird, schulden die Griechen ihrem Staat nach wie vor etwa 42 Milliarden Euro an Steuereinnahmen.

Auch im neuen Kreditvertrag fordert die Troika, 150 000 Stellen im krankhaft aufgeblähten öffentlichen Dienst einzusparen. 15 000 sollen es in diesem Jahr sein. 2011 lag die Vorgabe noch höher. Allein: Nur 6000 Beamte quittierten 2011 den Dienst - die meisten davon wären sowieso pensioniert worden.

Statt Reformen dort einzufordern, wo sie nötig seien, drohten die internationalen Kreditgeber mit ihren Sparmaßnahmen auch den letzten Rest funktionierender Privatwirtschaft zu ersticken, warnt Verbandschef Daskalopoulos. "Wenn wir so weitermachen, fehlt uns für einen Aufschwung jegliche wirtschaftliche Basis."

Die Politiker nutzen das vor allem, um zu retten, was aller Voraussicht nach nicht mehr zu retten ist: ihre Macht.

Er könne die geforderten Rentenkürzungen nicht mittragen, sagte Antonis Samaras während des 13-stündigen Verhandlungsmarathons in die Fernsehkameras - um kurz darauf sämtlichen Forderungen zuzustimmen.

Der Termin für Neuwahlen steht nicht einmal fest, eines allerdings scheint jetzt schon sicher: Die etablierten Parteien werden von der Wählerwut geradezu weggefegt werden. Die sozialistische Pasok, bis November 2011 die Partei, die mit Giorgios Papandreou den Regierungschef stellte, liegt nach Umfragen mittlerweile bei 8 Prozent. Die konservative Nea Dimokratia, deren Chef Antonis Samaras sich alle Mühe gibt, seinen größten Traum doch noch zu erfüllen und Premierminister zu werden, kommt demnach auf 30 Prozent, Tendenz: stark fallend.

Die Krise als Chance begreifen vor allem die kleineren linken Parteien; ihr Zu-

lauf wächst rasant. Die Slogans haben alle denselben Tenor: "Schluss mit der internationalen Besatzung".

Das ist das Kuriose an der Euro-Krise: Bei den angeblichen Besatzern sehen das viele ähnlich. Nach zwei Jahren Dauerdiskussion über Griechenland reift in der politischen Klasse des Hauptzahlerlandes Deutschland die Erkenntnis, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann.

Den geballten Unmut in der Union bekamen Kanzlerin und Finanzminister am vergangenen Freitagvormittag zu hören. Merkel und Schäuble hatten die Parlamentarier zu einer Sondersitzung der Fraktion bestellt, um den Weg bis zur Abstimmung über das zweite Griechenland-Paket am 27. Februar zu besprechen. Die Stimmung war frostig. Die Abgeordneten sind das Thema Griechenland leid. Immer wieder hören sie vor jeder neuen Rettungsaktion, nun mache Athen aber wirklich ernst mit den Reformen. Ist das Programm dann verabschiedet, lautet die Botschaft: Die Reformen kommen nicht voran.

Gunther Krichbaum, der gewöhnlich regierungstreue CDU-Europapolitiker, hatte gleich eine ganze Reihe von Fragen an Schäuble. Bleibe es bei den 130 Milliarden Euro für das zweite GriechenlandPaket?, wollte er wissen. Und: Wie könne ein ordentlicher Steuervollzug in Griechenland gewährleistet werden?

Schäuble flüchtete sich in Flapsigkeit. "Das ist doch schon in Deutschland schwierig", antwortete er und erntete Gelächter. Es sollte der einzige heitere Moment des Treffens bleiben.

Auch wenn die Parlamentarier Ende Februar das zweite Griechenland-Paket noch einmal abnicken - der Frust in der Union hat die Spitzen der Partei längst erreicht. "Wenn diejenigen, die Reformen umsetzen müssen, darauf hoffen könnten, dass es trotzdem Nachschüsse gibt, kämen wir nie zu einer Stabilitätsunion", warnt CSU-Chef Horst Seehofer. Der Bayer stellt sich hinter Merkels Rettungspolitik, will aber nicht endlos dafür Milliarden ausgeben. "Die Gesamthaftung Deutschlands bei der Euro-Rettung in Höhe von 211 Milliarden Euro darf nicht erhöht werden", sagt Seehofer. "Das ist die rote Linie."

Wolfgang Bosbach, einer der Euro-Rebellen in der CDU, sieht kaum eine Zukunft für Griechenland im Euro. "Ich kann dem zweiten Hilfspaket nicht zustimmen, denn dem Land fehlt es an Wirtschaftskraft, Wettbewerbsfähigkeit und einer effizienten öffentlichen Verwaltung, um sich zumindest mittelfristig wieder selbst finanzieren zu können", sagt er. Und der CSU-Europaexperte Thomas Silberhorn kritisiert: "Wir geben eine Geschäftsgrundlage nach der anderen auf."

Die FDP-Führung stützt den Kurs Merkels. Die Liberalen wollen nicht dafür verantwortlich gemacht werden, falls die Rettung Griechenlands misslingt. "Die Griechen müssen jetzt liefern", mit diesen Worten versuchte Parteichef Philipp Rösler seine Truppe vergangene Woche einzuschwören. Doch die Parteispitze fürchtet den Frust der Abgeordneten. Mehrere Parlamentarier haben intern bereits erklärt, sie wüssten nicht, ob sie einem erhöhten Hilfspaket zustimmen könnten.

Sogar die SPD tut sich zunehmend schwer mit der Griechenland-Rettung: Einerseits haben die Sozialdemokraten im Bundestag bislang die Politik Merkels mitgetragen, andererseits halten sie die Fokussierung auf das Sparen für falsch. Am Freitag brach sich diese Spannung bei der Sondersitzung der Fraktion Bahn.

Während Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, der eine Zustimmung zum Paket anstrebt, die Haltung der Fraktion festlegen wollte, hatten etliche Abgeordnete das Bedürfnis, grundsätzlich zu diskutieren. Viele meldeten sich zu Wort: Reine Austeritätspolitik, wie man sie aktuell in Griechenland betreibe, sei wirtschaftlicher Unsinn - so der Tenor. "Heißt das nun, dass wir gegen das Griechenland-Paket stimmen sollen?", unterbrach Steinmeier die Redner.

Deutschlands Parteiführer sind ratlos. Sie spüren, dass sich die Stimmung gegen eine erneute Griechenland-Rettung wendet, aber sie wissen auch, dass eine Pleite hohe Risiken birgt. Geht Griechenland bankrott, würde die deutsche Regierung schlimmstenfalls Dutzende Milliarden Euro verlieren.

Im Rahmen des aktuellen Rettungspragramms haben die Euro-Staaten gemeinsam mit dem IWF bereits mehr als 70 Milliarden Euro nach Athen überwiesen - in Form bilateraler Kredite. Mit 15 Milliarden Euro kommt der Großteil davon aus Deutschland. Entsprechend groß ist das Verlustrisiko des deutschen Finanzministers.

Zudem haften die deutschen Steuerzahler für die griechischen Staatsanleihen mit, die die Europäische Zentralbank (EZB) in der Finanzkrise in ihre Bücher genommen hat und die bei einer Pleite weitgehend wertlos würden. Dadurch, so schätzt das Münchner Ifo-Institut, kämen allein auf die deutschen Steuerzahler bis zu 13 Milliarden Euro zu.

Athens Notenbank hat bei der EZB rund 108 Milliarden Euro sogenannte Target-2-Verbindlichkeiten, um Griechenlands Banken zu stützen. Auch diese Forderung dürfte bei einem Austritt Griechenlands aus der Währungsunion weitgehend verfallen und müsste von den verbleibenden Notenbanken der Euro-Zone ausgeglichen werden. Für Deutschland könnte das laut Ifo-Institut weitere Kosten von bis zu 30 Milliarden Euro bedeuten.

Damit ist die Kostenrechnung aber nicht zu Ende. Kommt es zur Pleite, würde das ganze Land ins Chaos stürzen. Beamte bekämen keine Löhne mehr, Rentner keine Renten. Den griechischenBanken, die schon jetzt mehr schlecht als recht über die Runden kommen, würde die sofortige Pleite drohen, etlichen Unternehmen ebenfalls.

Der Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft würde auch Europas Bankensektor treffen. Deutsche oder französische Geldinstitute müssten nicht nur ihre griechischen Staatsanleihen endgültig abschreiben, sondern auch viele Kredite an den Privatsektor des Landes. Allein für die deutschen Banken geht es dabei insgesamt um rund 14 Milliarden Euro, für die französische Konkurrenz sogar um 35 Milliarden Euro. Einige Institute könnten diesen Verlust nicht selbst ausgleichen - und benötigten zusätzliche Staatshilfen.

Die Kosten eines totalen Hellenen-Bankrotts sind also immens. Trotzdem werden die Forderungen lauter, der griechischen Tragödie endlich ein Ende zu setzen. Ifo-Chef Hans-Werner Sinn etwa glaubt, dass eine Pleite des Landes für alle Beteiligten "das glimpflichste Schreckensszenario" wäre.

Doch was, wenn das Land anschließend aus dem Euro austreten würde? Um wirtschaftlich zu gesunden, wäre ein solcher endgültiger Schlussstrich unter das Euro-Abenteuer konsequent. Wenn die Regierung die Drachme wieder einführt und diese massiv abwertet, werden Griechenlands Waren und Dienstleistungen billiger. Der Tourismussektor zum Beispiel wäre gegenüber der Konkurrenz etwa in Spanien erheblich wettbewerbsfähiger. "Dies ist der am besten erprobte und praktikabelste Weg, um Krisen wie in Griechenland zu überwinden", machte der US-Ökonom Kenneth Rogoff vergangene Woche bei einem Vortrag in der Berliner American Academy klar.

Doch was Griechenland helfen würde, hätte für die restliche Euro-Zone unabsehbare Folgen. "Niemand kann vorhersagen, wie groß die Ansteckungseffekte eines solchen Schritts sind", sagt Oxford-Ökonom Clemens Fuest. Zwar würden Europas Politiker umgehend beteuern, Griechenland sei ein Sonderfall. Doch ob Europas Bürger und die internationalen Geldanleger den Zusicherungen glauben würden, ist fraglich. Zu oft wurden in der Euro-Krise Versprechen bereits gebrochen.

Greift aber die Sorge um sich, dass Griechenland nur der Anfang einer Reihe von Austritten aus der Währungsunion ist, droht eine gefährliche Kettenreaktion. Banken, Versicherungen und Fonds würden versuchen, die Staatsanleihen von Krisenländern möglichst schnell abzustoßen. Und die Bürger von Lissabon über Madrid bis Rom würden möglicherweise beginnen, ihre Konten zu plündern und das Bargeld nach Nordeuropa zu schaffen. Aus der schleichenden Kapitalflucht der vergangenen Monate würde ein regelrechter Bank-Run, der die Währungsunion endgültig zur Explosion bringen könnte.

Die Griechenland-Retter stecken in einem kaum lösbaren Dilemma. Machen sie weiter wie bisher, kommt das Land nicht aus der Krise. Drängen sie Athen aus dem Euro, gerät die ganze Währungsunion in Gefahr. So verbleibt als einzig gangbare, aber teure Strategie: eine Staatspleite Griechenlands innerhalb der Währungsunion. Auf diese Weise ließe sich der Kreditberg des Landes auf ein verträgliches Niveau drücken, was den nötigen Spielraum schaffen würde für einen ökonomischen wie politischen Neuanfang: harte Strukturreformen und eine Wachstumsstrategie für Industrie und Dienstleistungen.

Es wäre der Plan B, nach dem die Politiker in Brüssel wie Berlin schon so lange suchen. Noch ist unklar, wann sie den Mut für den unvermeidlichen Schritt finden werden, doch denken die Beteiligten bereits darüber nach, wie sich die Abkehr vom bisherigen Kurs am besten nach innen wie nach außen rechtfertigen lässt. "Wenn es in Griechenland scheitert", sagte Finanzminister Schäuble vergangenen Freitag in der Sitzung der Unionsfraktion, "darf es nicht an Deutschland scheitern."


UPDATE: 13. Februar 2012


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


GRAFIK: Premierminister Papademos (2. v. r.), Parteiführer(*): Zu Hochform aufgelaufen
Deutsche-Bank-Chef Ackermann: Details offen
Touristenziel Mykonos: Eine Abwertung würde die Attraktivität steigern
(*) Georgios Karatzaferis, Antonis Samaras und Georgios Papandreou am vergangenen Mittwoch in Papademos' Büro in Athen.


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Der Spiegel


13. Februar 2012


Im Biotop


AUTOR: Fröhlingsdorf, Michael; Gude, Hubert; Müller, Martin U.; Weinzierl, Alfred


RUBRIK: DEUTSCHLAND; AFFÄREN; S. 29 Ausg. 7


LÄNGE: 1453 Wörter



HIGHLIGHT: Die Staatsanwaltschaft diskutierte vorige Woche intensiv über Christian Wulffs Kurzurlaub auf Sylt 2007 - noch verhindert die Verfassung die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens.


Zum Freundeskreis des Bundespräsidenten zu gehören kann in diesen Tagen heikel, anstrengend, sogar gefährlich sein. Und David Groenewold, 38, der Filmfinanzierer, Netzwerker, Partylöwe, war ein paar Jahre lang wirklich eng mit Christian Wulff. Deshalb setzte sich der Berliner Unternehmer vor ein paar Wochen mal in Ruhe hin und schrieb eine Liste mit Begebenheiten auf, die ihm oder Wulff unangenehm werden könnten - so erzählte er es jedenfalls Bekannten.

Die Liste umfasst zwölf Positionen. Der kritischste Punkt schien ihm jener Kurzurlaub zu sein, den Groenewold gemeinsam mit dem Ehepaar Wulff vom 31. Oktober bis 3. November 2007 auf Sylt verbrachte, denn er hatte keinen Beleg mehr über den Aufenthalt. Er wusste nur, dass er die Wulff-Suite im "Hotel Stadt Hamburg" mit seiner Kreditkarte bezahlt hatte, 258 Euro pro Nacht. Groenewold rief das traditionsreiche Haus an, um ein Duplikat der Rechnung zu bekommen. Doch das Personal zierte sich.

Groenewold fuhr darum selbst nach Sylt. Die Direktionsassistentin des Hotels händigte ihm die Kopien aus, woraufhin er vor zwei weiteren Angestellten noch die spaßige Frage stellte, ob man aus dem Gästebuch die Seite von Wulffs Besuch herausreißen könne. Alle, so erzählt es Groenewold Bekannten, hätten herzlich gelacht. 

Vorige Woche erschien in "Bild" eine abweichende Version der groenewoldschen Intervention auf Sylt. Nach Aufzeichnungen des Hotels habe der Filmfondsmanager am 16. Januar angerufen und darum gebeten, "keine Daten" über ihn und seine Übernahme der Wulff-Rechnung an neugierige Medien herauszugeben. Auf einer To-do-Liste ans Personal ist die Anweisung zu lesen: "Falls also Bild oder Spiegel anruft, wir wissen von nichts!" Auf die Frage, wer den Urlaub damals bezahlt habe, erhielt "Bild" von Wulffs Anwalt die Antwort: "Herr Wulff erstattete Herrn Groenewold die verauslagten Kosten des Aufenthalts in den Räumlichkeiten des Hotels Stadt Hamburg." Die Zahlung sei bar erfolgt.

Wann immer in den vergangenen Wochen die Affäre um den ehemaligen Ministerpräsidenten und amtierenden Bundespräsidenten auszulaufen schien, kam ein neuer Vorgang aus dem an guten Freundschaften so reichen Leben des Christian Wulff ans Tageslicht. Vieles hatte nicht das Kaliber, um den Ermittlern aus der Korruptionsabteilung der Staatsanwaltschaft Hannover einen erhöhten Puls zu verschaffen. Groenewold hatte sich schon mehrfach als Vorauszahler bewährt, der sich seine Auslagen, so sagt er zumindest, von Freund Wulff cash erstatten ließ. Den gemeinsamen Sylt-Trip finden die Ankläger aber spannend - weil zwischen einer Fünf-Millionen-Euro-Bürgschaft des Landes Niedersachsen zugunsten einer Filmfirma, an der Groenewolds Produktionsgesellschaft zur Hälfte beteiligt war, und dem Urlaub nicht Jahre, sondern nur Monate lagen.

Die Staatsanwaltschaft, der von Öffentlichkeit, Politikern und manchen Strafrechtsprofessoren seit Wochen vorgehalten wird, in der Causa Wulff untätig zu sein, sieht in dieser "zeitlichen Nähe" eine neue Qualität. Und so schrammte die Bundesrepublik vorige Woche an einer Staatsaffäre vorbei, wie es sie noch nicht gegeben hat: einem Ermittlungsverfahren gegen den Bundespräsidenten.

Bei jedem gewöhnlichen Beamten hätte die Staatsanwaltschaft so ein Verfahren wohl eingeleitet, der Anfangsverdacht auf Vorteilsannahme wäre hinreichend gewesen. Der Bundespräsident lebt und arbeitet aber in einem von der Verfassung geschützten Biotop - Betreten verboten. So lange seine Immunität nicht aufgehoben ist, darf keine Staatsanwaltschaft gegen ihn ermitteln. Sie darf keine Zeugen vernehmen, keine Akten anfordern, keine Dokumente beschlagnahmen. Sie darf nur öffentlich zugängliche Quellen benutzen. Fernsehen schauen, Zeitung lesen.

Sollen die Strafverfolger also aufgrund von Zeitungsartikeln beim Deutschen Bundestag die Aufhebung der Immunität des Staatsoberhaupts beantragen? Die Verfassungsväter haben das so vorgesehen - aber sie haben wahrscheinlich nicht vorhergesehen, welcher Politikertypus einmal das höchste Amt der Republik einnehmen würde.

Der Leiter der Korruptionsabteilung der Staatsanwaltschaft Hannover ist seit 15 Jahren im Job. So unwohl wie derzeit hat er sich selten gefühlt. Auf Öffentlichkeit legt er keinen Wert, Journalisten müssen versprechen, seinen Namen nicht zu publizieren. Vorige Woche hatte er aber Redebedarf, er wollte um Verständnis werben für seine Nöte. Mehr als hundert Bürger haben Strafanzeigen geschickt. Der Tenor: Jeder Beamte im Land hätte sich längst wegen Vorteilsannahme oder Bestechlichkeit rechtfertigen müssen.

Und in der Tat hätte die Staatsanwaltschaft etwa beim Leiter eines Bauamts, der im Verdacht steht, von einem Bauunternehmer bestochen worden zu sein, diskretdas Umfeld der beiden durchleuchtet. Sie hätte Auftragsbücher studiert, Kontoauszüge geprüft, Barabhebungen verfolgt - und wenn die Mosaiksteine ein Bild ergeben und den Verdacht erhärtet hätten, auch Zeugen vernommen oder Durchsuchungsbeschlüsse beantragt.

Man müsste ergebnisoffen vorermitteln können, aber das ist beim ersten Mann im Staate nicht erlaubt. Die Staatsanwälte der Korruptionsabteilung, zwei Männer und zwei Frauen, fühlen sich in einem klassischen Dilemma. Tun sie nichts, wird ihnen zögerlicher Umgang mit dem ranghöchsten Politiker im Staat vorgeworfen. Beantragen sie die Aufhebung der Immunität, finden bei ihren Ermittlungen aber keine relevanten Beweise, haben sie womöglich Wulffs Karriere ruiniert und das Amt des Bundespräsidenten desavouiert.

Vorige Woche haben die Korruptionsfahnder lange debattiert - und entschieden, nichts zu tun. Die Aussagen von Wulff und Groenewold, ihre Außenstände gern mal bar zu begleichen, lassen sich kaum widerlegen. Und dass sie einander vertrauen, dass der Filmzampano auch mit mehr als ein paar hundert Euro in Vorlage treten würde, steht außer Frage.

Groenewold und Wulff lernten sich 2003 in Goslar kennen, bei Dreharbeiten zum Fernsehdrama "Das Wunder von Lengede". Der Filmmanager, den viele für einen "Menschenfänger" halten, führte den spröden Politiker in die Glitzerwelt der Stars und Sternchen ein. Wulff ließ sich fangen und setzte sich schon bald für den Bestand der Steuervorteile für Filmfondsinvestoren ein. Im Januar 2006 besuchte Groenewold sogar die Staatskanzlei, um für die fiskalische Sonderbehandlung seines Anlagemodells zu werben.

Wenn Groenewold gegenüber Freunden sein Verhältnis zu Wulff beschreiben will, erzählt er gern die Geschichte seines größten Liebeskummers. Ein Model hatte ihn damals verlassen, kurz bevor sie heiraten wollten, 15 Kilogramm habe er damals abgenommen. Wulff sei in dieser schwierigen Phase immer für ihn da gewesen. Und bei Wulffs Vertrautem Olaf Glaeseker habe er seinerzeit viele Wochenenden verbringen dürfen.

Umgekehrt war Kumpel Groenewold natürlich zu Diensten, als Wulff vertraulich telefonieren wollte. Groenewold besorgte ihm ein Mobiltelefon. Am 26. Oktober 2005 schlossen die beiden Freunde sogar einen Vertrag, der dem SPIEGEL vorliegt. "David Groenewold überlässt Wulff das Nokia-Mobiltelefon/Simkarte mit der Telefonnummer (Simkarte) zum entgeltlichen Gebrauch." Wulff habe das Handy nach ein paar Monaten, so Groenewold, zurückgegeben. Und die Kosten beglichen. In bar natürlich.

Die Handy-Ausleihe war ein weiterer der zwölf Posten auf Groenewolds Giftliste. Dass die Staatsanwälte sich für das Gerät interessieren, ist jedoch nicht zu erwarten. Als weisungsgebundene Beamte beobachten sie hingegen mit großer Aufmerksamkeit, wie sich die niedersächsische Regierung in der Affäre um Schadensbegrenzung bemüht.

In der Landes-CDU gibt es nach wie vor treue Anhänger Wulffs, doch bei den meisten Parteifreunden hat er an Rückhalt eingebüßt. Schadenfroh berichten Oppositionspolitiker von impulsiven Rededuellen zwischen Unionsmännern auf der Landtagstoilette. Wulffs Nachfolger David McAllister verspricht Transparenz, ohne sich vom Vorgänger loszusagen.

So scheint die Affäre zu einer Last im heraufziehenden Landtagswahlkampf zu werden. Ursprünglich wollte die SPD mit einer Klage vor dem Staatsgerichtshof klären lassen, ob Wulff 2010 den Landtag über die Beteiligung des Landes an der Party-Reihe Nord-Süd-Dialog falsch unterrichtet habe. Vergangene Woche entschieden die Sozialdemokraten, in der Klage auf die McAllister-Regierung zu zielen. Auch sie habe dem Parlament nicht die Wahrheit gesagt. Selbst ein Untersuchungsausschuss, den Linke wie Grüne sowieso fordern, wird von der SPD wieder in Erwägung gezogen. Er könnte die Debatte bis zur Wahl im Januar 2013 am Köcheln halten.

Christian Wulff könnte solches Ungemach verhindern - mit seiner Demission. Aber noch wagt niemand in der niedersächsischen CDU, das zu fordern.

Die Staatsanwaltschaft vorzuschicken wäre eine deutlich elegantere Operation.


UPDATE: 13. Februar 2012


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BIBLIOGRAPHIE: Groenewold, David - Bez#Beziehungen Wulff, Christian - Bez#Beziehungen # Tät#Täter


GRAFIK: Wulffs Handy-Vertrag: Posten auf der Giftliste


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11. Februar 2012 Samstag 9:35 AM GMT+1 


Per Rechtsruck Richtung Wiederwahl


AUTOR: Stefan Simons


RUBRIK: SARKOZYS STRATEGIE


LÄNGE: 895 Wörter



HIGHLIGHT: Gefährliche Avancen: Mit populistischen Parolen gegen Ausländer, Arbeitslose und Homosexuelle umwirbt Frankreichs Präsident Sarkozy das konservative Lager - und versucht, Sympathisanten des rechtsextremen Front National auf seine Seite zu ziehen.; http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,814638,00.html


Kanzlerin Merkel war etwas vorschnell: Als sie Anfang der Woche Seite an Seite mit Sarkozy versprach, sie werde den französischen Präsidenten im Wahlkampf unterstützen, hatte der sich noch gar nicht als Kandidat geoutet. Jetzt, sechs Tage nach dem Doppel-Interview von ZDF und France2, lässt Frankreichs Staatschef kaum noch Zweifel, dass er zur Wiederwahl antritt. "Ich habe gesagt, dass das Rendezvous näherkommt", orakelte Sarkozy im Wochenend-Magazin des "Figaro", "es rückt heran".

Dabei wird es Zeit für den Präsidenten, in den Angriffsmodus umzuschalten. Seit Monaten liegt er in den Umfragen deutlich hinter François Hollande, dem Konkurrenten der Sozialistischen Partei (PS). "Wenn sich die Dynamik binnen des Februar erst einmal verfestigt", so Polit-Experte Brice Teinturier vom Forschungsinstitut Ipsos, "wird es schwer, den Vorsprung noch aufzuholen." 

Zwar waren die Unterschiede zwischen dem staatsmännisch agierenden Führer der Nation und dem kämpferischen Wadenbeißer in den vergangenen Wochen kaum noch wahrnehmbar. Sarkozys wöchentliche Abstecher in die Provinz - jedes Mal einem bestimmten Thema gewidmet - sind nichts anderes als Werbeauftritte in eigener Sache. Und auch während seiner Ansprache an die Nation Ende Januar, für die der Elysée gleich acht Fernsehstationen verpflichten konnte, gebärdete sich Sarkozy bereits offen als Kandidat.

Es fehlte nur noch das Coming-out als offizieller Wahlkämpfer. Die Entscheidung so lange wie möglich hinauszuziehen, war ein Fehler. "Ich bin gewählt und bis zum letzten Tag meiner Amtszeit arbeite ich für Frankreich", hatte Sarkozy immer wieder betont. Doch was wie selbstloser Einsatz für die krisengeschüttelte Nation klingen sollte, wirkte eher wie ein PR-Manöver. Schlimmer noch: In den Erhebungen der Meinungsforscher litt die Glaubwürdigkeit des Staatschefs.

Anleihen beim rechtsnationalen Lager

Jetzt endlich hat Sarkozy Vorschläge für ein Wahlprogramm präsentiert - mit deutlichen Anleihen beim rechtsnationalen Lager. Was da im "Figaro"-Magazin ausgebreitet wird, markiert einen deutlichen Ruck nach rechts: Sarkozy wettert gegen die Homo-Ehen, gegen die Adoption durch gleichgeschlechtliche Partnerschaften und gegen Sterbehilfe. Ein lokales Wahlrecht für Ausländer lehnt er ab, die Abschiebung illegaler Immigranten soll indes erleichtert werden.

Den ideologischen Überbau zu den hinlänglich bekannten Anleihen aus dem Fundus des Front National bildet Sarkozys Motto: "Meine Werte für Frankreich." "Autorität", "Arbeit", "Verantwortung", zieren das "persönliche und kollektive Projekt" des Präsidenten für die nächsten fünf Jahre, hinzu kommt das Loblied auf Familie, Laizismus und die "christlichen Wurzeln Frankreichs". Mit den Entlehnungen aus dem Wörterbuch der Rechten gelang Sarkozy 2007 der Einzug in den Elysée. Jetzt sollen die aufgewärmten Parolen offenbar von den wirtschaftlichen Misserfolgen seiner Amtszeit ablenken - Kaufkraftverlust, Arbeitslosigkeit, Schuldenberg.

Dasselbe Motiv dürfte auch hinter dem Vorschlag stecken, per Volksabstimmung den Problemen der Republik zu Leibe zu rücken. Nach dem Willen des Präsidenten würden seine Landsleute darüber entscheiden, wie Auflagen für Immigranten verschärft werden; ein Referendum könnte aber auch festlegen, ob die Bezieher von Stützen künftig ein Job-Angebot oder eine Weiterbildung ablehnen dürfen. "Die Entschädigung wäre nicht länger eine Zuwendung, die man passiv bekommt, sondern eine Belohnung der öffentlichen Arbeitsämter im Gegenzug für eine Ausbildung, die der Arbeitsuchende erbringen müsste", erklärt Sarkozy seine Überraschungsidee, die umgehend auf Widerspruch stieß - sogar in der eigenen Regierung.

"Damit werden wieder einmal Arbeitslose und Ausländer stigmatisiert", rügte die Zeitung "Libération" und brandmarkte den Präsidenten auf der Titelseite als "Reaktionär". Eva Joly, Kandidatin der Grünen, sieht eine ganze Tranche von Mitbürgern an den Pranger gestellt und Jean-Christophe Lagarde vom Koalitionspartner "Neues Zentrum" konstatiert: "Das Referendum ist eine Technik zur Durchsetzung politischer Ziele - Probleme wie die Arbeitslosigkeit bekommt man damit nicht in den Griff." "Vulgäre Fälschung" nennt Wallerand Saint-Just, Vizechef des Front National, die abgekupferten Vorschläge Sarkozys und erinnert daran, dass der Präsident eine Volksabstimmung über die Rettungsaktionen für den Euro immer rundweg abgelehnt hatte.

Der attackierte Staatschef bleibt freilich bei seinem strammen Rechtskurs - in der Hoffnung, die wankenden Sympathisanten der Wertkonservativen hinter sich zu bringen. Deswegen soll auf den ersten Akt des Wahlkampfs schon Mitte der kommenden Woche die öffentliche Einsegnung des Kandidaten folgen: In Paris sind bereits Säle reserviert, am 19. Februar folgt eine Großveranstaltung in Marseille. Nach dem Auftakt erscheint auch ein neues Buch des Präsidenten, der bis zum ersten Wahlgang am 22. April mit einem Dutzend Auftritten den Stimmungswechsel herbeiführen will.

"Volksabstimmung? Warum hat er daran denn nicht früher gedacht", mokiert sich indes PS-Kandidat Hollande über den populistischen Vorstoß Sarkozys. Bei den Steuererleichterungen für die Reichen etwa, bei den Renten oder der Erhöhung der Mehrwertsteuer: "Ich bin sicher, welche Antwort ihm das französische Volk erteilt hätte." Und der Sozialist legt spöttisch nach: "Das nächste Referendum ist die Präsidentschaftswahl."


UPDATE: 11. Februar 2012


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10. Februar 2012 Freitag 12:57 PM GMT+1 


Griechenland verspricht Reformen, Deutschland meckert


RUBRIK: SCHULDENKRISE


LÄNGE: 1122 Wörter



HIGHLIGHT: Deutschlands Vertrauen in Griechenlands Reformwillen ist erschöpft: Alle Parteien verlangen mehr Spar-Ehrgeiz, in der Koalition wachsen die Zweifel am Sinn neuer Milliardenhilfen. Die Stimmung in Athen wird immer gereizter: Die Polizeigewerkschaft drohte Troika-Kontrolleuren jetzt mit der Festnahme.; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,814501,00.html


Berlin - In der schwarz-gelben Koalition wächst die Skepsis gegenüber den Sparbemühungen Athens. Deutsche Spitzenpolitiker forderten Griechenland auf, endlich ein tragfähiges Sanierungskonzept zu verabschieden. In Sondersitzungen der Bundestagsfraktionen am Freitagmorgen wurden allerdings auch Zweifel laut, ob die Anstrengungen Griechenlands das Land überhaupt dauerhaft retten und den Verbleib in der Euro-Zone sichern können.

"Wir werden den Druck weiter aufrechterhalten", sagte Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler nach dem Treffen der FDP-Abgeordneten. Die Griechen müssten erst noch beweisen, dass sie die notwendigen Reformen umsetzen, bevor sie mit weiteren Hilfen rechnen könnten. "Das griechische Parlament muss die Maßnahmen auch beschließen." Fraktionschef Rainer Brüderle formulierte es knapper und im FDP-Sprech: "Griechenland muss liefern." Der FDP-Finanzexperte Frank Schäffler glaubt nicht, dass die Griechen dazu in der Lage sein werden. Die Vorstellungen der sogenannten Troika aus EU, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Zentralbank (EZB) seien "pure Illusion". "Das kann nicht gutgehen", sagte Schäffler, der den Euro-Rettungskurs schon in der Vergangenheit scharf kritisiert hatte. 

Auch in der Union meldeten sich kritische Stimmen zu Wort. Der CSU-Abgeordnete Hans Michelbach sagte nach der Fraktionssitzung: "Die Griechen müssen jetzt Gesetze machen, sonst macht die Fraktion nicht mit." In der Sitzung äußerte der CSU-Abgeordnete Thomas Silberhorn Zweifel, ob Griechenland dauerhaft in der Euro-Zone bleiben könne. Auch die CDU-Abgeordnete Marlene Mortler erklärte nach Angaben von Teilnehmern mit Blick auf die Rettungsbemühungen: "In der Praxis wird das nicht funktionieren."

"Weg des geringsten Schadens"

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) setzt trotzdem auf einen Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone. Eine Staatspleite hätte unabsehbare Folgen, ließ sie laut Teilnehmern wissen - ohne das Wort von der Pleite explizit in den Mund zu nehmen. Dadurch hätte man "ein Haftungsrisiko am Hacken, das man nicht mehr beherrschen kann", wird Merkel zitiert. Sie warb für weitere Hilfen. Es sei der "Weg des geringsten Schadens", den sie am meisten verantworten könne, sagte Merkel. Auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sagte vor den Abgeordneten, in der Abwägung halte er "das, was wir tun, für die verantwortliche Lösung".

Der Minister machte allerdings klar, dass die Voraussetzungen zur Freigabe weiterer Hilfen noch nicht erfüllt seien. Vorerst sei mit den Maßnahmen ein Schuldenstand von 128 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2020 zu erreichen, die Zielmarke liege aber bei 120 Prozent. "Es geht nicht darum, die Griechen zu quälen", sondern auf einen Pfad zurückzuführen, damit der Euro-Partner wieder "ein auskömmliches Leben" führen könne, sagte Schäuble laut Teilnehmern.

Der Bundestag soll in gut zwei Wochen über die geplanten weiteren Milliardenhilfen entscheiden. Für den 27. Februar soll eine Sondersitzung anberaumt werden. Dann werde man darüber abstimmen, "wie nun der Weg für Griechenland und die Unterstützung weitergeht", sagte Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU). Merkel hatte bereits am Morgen die Spitzen von Union, FDP, SPD, Grünen und Linken im Kanzleramt über den Stand der Verhandlungen über die Griechenland-Hilfe auf EU-Ebene informiert.

Erst in der Nacht zum Freitag hatte die Euro-Gruppe den Griechen ein letztes Ultimatum zur Umsetzung der Sparbeschlüsse gesetzt. Bis zum kommenden Mittwoch muss die Regierung in Athen noch drei Bedingungen erfüllen, die für ein neues Rettungspaket notwendig sind, sagte Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker in Brüssel: Das Parlament soll die neuen Spargesetze am Sonntag verabschieden. Dann müssen die drei großen Parteien das Abkommen unterschreiben. Und darüber hinaus müssen weitere 325 Millionen Euro eingespart werden.

SPD-Haushälter Carsten Schneider hält die internationalen Verabredungen zu Griechenland für "fernab von der Realität". Die Zahlen, die jetzt vorgelegt wurden, könnten "niemals eingehalten werden", sagte er. Es fehle schlicht das nötige Wirtschaftswachstum in Griechenland. Die Bundesregierung mache daher sich selbst und der Opposition etwas vor. "Ich halte das nur noch für Scheingefechte", sagte Schneider mit Blick auf die etwas diffuse Lage zu dem neuen Sparpaket der griechischen Regierung. "Die Euro-Zone weiß, dass sie Griechenland nicht fallen lassen kann." Auch den Grünen reicht das bisher Vorgelegte nicht aus. Griechenland habe "noch einiges an Hausaufgaben zu erledigen", zeigte sich Fraktionschefin Renate Künast überzeugt.

Griechische Polizeigewerkschaft droht Troika-Kontrolleuren mit Festnahme

In der deutschen Bevölkerung wächst der Unmut. Die meisten Deutschen zweifeln am Sparwillen der Griechen. Nur 27 Prozent der im neuen ZDF-Politbarometer befragten Bundesbürger glauben, dass sich Griechenland ernsthaft bemüht, die zugesagten Milliarden-Sparvorgaben umzusetzen. 66 Prozent der Deutschen haben hingegen Zweifel daran. 46 Prozent sind der Ansicht, ein Staatsbankrott Griechenlands sollte von den Euro-Staaten in Kauf genommen werden, geht weiter aus der am Freitag veröffentlichten Umfrage hervor. Genauso viele sind dagegen.

Derweil hat ein neuer Generalstreik das öffentliche Leben im hoch verschuldeten Griechenland weitgehend lahm gelegt. In der Hauptstadt Athen fuhren weder Busse noch U-Bahnen, öffentliche Einrichtungen waren geschlossen. Auch die Fähren zu den Inseln blieben in den Häfen, der Flugverkehr verlief jedoch störungsfrei. Angesichts angekündigter Kundgebungen waren im Zentrum Athens Polizisten in großer Zahl postiert. Auch in anderen Städten des Landes, etwa in Thessaloniki, waren Protestmärsche geplant.

Zu dem Streik gegen neue Sparpläne der Regierung, der auch am Samstag fortgesetzt werden soll, hatten die wichtigsten Gewerkschaften des Landes aufgerufen. Zuletzt hatte in Griechenland am Dienstag ein eintägiger Generalstreik stattgefunden.

In der Krise kommen immer kuriosere Forderungen auf: Der Vorstand der Gewerkschaft der Polizisten des Landes (POESY) drohte mit der Festnahme der Kontrolleure von EU, IWF und EZB. Nach Ansicht der Gewerkschaft versuche die Troika, mit den harten Sparmaßnahmen die demokratische Ordnung umzuwerfen. Zudem versuche sie, die "nationale Souveränität" zu verletzen und vom griechischen Volk wichtige Güter zu rauben. "Wir warnen Sie, dass wir die sofortige Ausgabe von Haftbefehlen fordern werden", hieß es am Freitag unter anderem in einer schriftlichen Erklärung, die an die Troika-Vertreter geschickt wurde. Zudem wurde am Freitag ein Flugblatt verteilt, auf dem "Wanted" (gesucht) stand und das für die Festnahme der "Troikaner" einen Euro als Belohnung in Aussicht stellte.

yes/anr/phw/dpa/Reuters/dapd/AFP


UPDATE: 10. Februar 2012


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9. Februar 2012 Donnerstag 8:46 PM GMT+1 


US-Atombehörde genehmigt ersten AKW-Neubau seit 1978


RUBRIK: AUSBAU DER ATOMKRAFT


LÄNGE: 780 Wörter



HIGHLIGHT: Am Ende standen vier Stimmen gegen eine: Zum ersten Mal seit 1978 hat die Nukleare Regulierungskommission in den USA den Bau von Atomreaktoren genehmigt. Mit dem knapp elf Milliarden Euro teuren Projekt in Georgia soll eine "atomare Renaissance" eingeleitet werden.; http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,814395,00.html


Washington - Von einem Ausstieg aus der Atomkraft kann in den USA keine Rede sein: Zwar ließ Präsident Barack Obama nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima sämtliche US-Kernkraftwerke überprüfen, doch hinter den Kulissen wirkt eine mächtige Pro-Atom-Lobby, die auf Engste vernetzt ist mit dem Regierungsapparat in Washington. Obama und weitere Befürworter der Atomenergie hatten in jüngster Zeit argumentiert, mit einer weitreichenderen Nutzung der Atomkraft die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringern und dabei Energiequellen erschließen zu können, die keine schädlichen Emissionen produzieren.

Jetzt hat die Atomaufsichtsbehörde zum ersten Mal seit 1978 den Bau von Atomreaktoren genehmigt. Die Nukleare Regulierungskommission (NRC) stimmte am Donnerstag mit vier gegen eine Stimme für die Errichtung zweier Atomreaktoren in dem bereits bestehenden Atomkraftwerk Vogtle im US-Staat Georgia. Damit soll in den USA eine "atomare Renaissance" eingeleitet werden. 

Der Energiekonzern Southern Company bezeichnete die Lizenzvergabe in einer Mitteilung als "monumentale Leistung". Die beiden neuen Reaktoren würden "den Standard für Sicherheit und Effizienz in der Atomindustrie setzen" und letztlich 25.000 Arbeitsplätze schaffen. Die 14 Milliarden Dollar (knapp elf Milliarden Euro) teuren Atomreaktoren könnten bereits 2016 und 2017 in Betrieb gehen. Das Unternehmen hatte von der Regierung Garantien für Kredite über acht Milliarden Dollar erhalten. Der Ausbau des Netzes von mehr als 100 alten und alternden Reaktoren, die in den USA rund ein Fünftel der Elektrizität produzieren, gehört zu den Säulen von Obamas Energiepolitik.

Die beiden Druckwasserreaktoren vom Typ A1000 des Westinghouse-Konzerns waren bereits im Dezember grundsätzlich gebilligt worden. Doch das Leitungsgremium der Atomaufsicht hat erst am Donnerstag endgültig zugestimmt - obwohl sich NRC-Chef Gregory Jaczko gegen das Projekt aussprach. "Ich kann die Vergabe dieser Genehmigung nicht unterstützen, als sei Fukushima niemals passiert", sagte er. Jaczko fordere die verbindliche Zusage des Unternehmens, die neuen Anlagen nach scharfen Sicherheitsstandards zu betreiben. Das Atomkraftwerk Fukushima war durch ein verheerendes Erdbeben und einen darauffolgenden Tsunami am 11. März 2011 schwer beschädigt worden. Die Zerstörungen in der Anlage lösten den weltweit schwersten atomaren Unfall seit Tschernobyl 1986 aus. Ganze Städte waren wegen der radioaktiven Strahlung unbewohnbar, Zehntausende Menschen wurden obdachlos.

Nach Angaben der NRC sind in den USA derzeit mehr als hundert Reaktoren in über 60 Atomkraftwerken am Netz. Zuletzt genehmigte die Nukleare Regulierungskommission 1978 den Bau von Reaktoren - ein Jahr vor der Atomkatastrophe in Three Mile Island bei Harrisburg. Dort hatte sich 1979 in einem Reaktorblock eine teilweise Kernschmelze ereignet, Radioaktivität gelangte in die Umwelt. Der letzte Reaktorneubau wurde 1986 im Bundesstaat Louisiana fertiggestellt.

Atomkraft: Wahlkampfthema in Frankreich

Auch in Frankreich gilt die Atomkraft als Grundpfeiler, an dem nicht gerüttelt wird. Am Donnerstag hat Präsident Nicolas Sarkozy das elsässische Kernkraftwerk Fessenheim dicht an der deutschen Grenze besucht und klargestellt: Es bleibt am Netz. Die Anlage sei sicher und funktionstüchtig, sagte Sarkozy sehr zur Freude der rund 700 Angestellten - sie sehen ihre Arbeitsplätze für die kommenden zehn Jahre gesichert.

Kritik am Auftritt Sarkozys kam aus Deutschland. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann forderte eine Abschaltung des Werks "so schnell wie möglich". Erst kürzlich hatte die französische Atomaufsichtsbehörde ASN der Anlage erheblichen Nachrüstbedarf verordnet. Es sei deshalb nicht nachvollziehbar, warum Frankreich an einem Weiterbetrieb festhalten will, sagte der Grünen-Politiker Kretschmann. Nach den Vorfällen in Japan hat die Bunderegierung denAusstieg aus der Atomkraft beschlossen.

In Frankreich hat sich der Streit um die Atomkraft mittlerweile zu einem zentralen Wahlkampfthema entwickelt. Der sozialistische Präsidentschaftskandidat François Hollande hat für den Fall seines Wahlsieges versprochen, Fessenheim abzuschalten und den Anteil der Atomkraft an der Energieversorgung schrittweise zu verringern. Sarkozy ist zur Offensive übergegangen: Seit Monaten warnt er vor dramatischen Konsequenzen, wenn man die Atomkraftwerke Frankreichs abschalten würde: 240.000 Arbeitsplätze hingen von der Atomkraft ab, der Strompreis würde sich ohne Atomkraft verdoppeln. Seiner Meinung nach ist der Ausstieg aus der Atomkraft "rein ideologisch" motiviert. Erneuerbare Energien taugten lediglich zur Ergänzung der Atomkraft.

aar/dapd/Reuters/AFP/dpa


UPDATE: 10. Februar 2012


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9. Februar 2012 Donnerstag 3:00 PM GMT+1 


Die wichtigsten Metal-Alben des Monats


RUBRIK: AMTLICH


LÄNGE: 4470 Wörter



HIGHLIGHT: Der singende Sex-Clown ist zurück! Thorsten Dörting freut sich über Van Halen mit David Lee Roth am Mikro, fürchtet sich vor der Eiseskälte von Drudkh und nimmt Lamb of God mit in die Berufsschule. Jan Wigger ist sauer auf Peavy von Rage: Von dem kauft er keinen Gebrauchtwagen!; http://www.spiegel.de/kultur/musik/0,1518,813584,00.html


Van Halen - "A Different Kind Of Truth"(Interscope Records/ Universal, bereits erschienen)

Wie verzweifelt eine Jugend in der niedersächsischen Provinz Mitte der Achtziger verlaufen konnte, lässt sich daran ermessen, dass ich mir im Alter von 14 Jahren für einige Monate einen singenden Penis zum männlichen Vorbild erkor: David Lee Roth. Ich lernte DLR erst richtig kennen, nachdem er bereits mit Van Halen zum Karrierehöhepunkt gekommen war und nun auf Solopfaden lustwandelte: "Skyscraper" erschien 1988, auf dem Cover posierte mein neuer Lebensabschnittsheld mit gewohntem Größenwahn in einer Bergwand hängend. 

Das Album bot filigranen Hardrock-Pop, von Gitarrengott Steve Vai gekonnt in Szene gefingert. Was mich aber wirklich anfixte, war die augenzwinkernde Großmäuligkeit, mit der der rockende Erotomane Roth sich und seine Musik vorführte. Sein lustvoll dahingeplapperter Gesang klang, als würde er im grellen Licht eines US-Mini-Marts die blonde Kassiererin kurz vor ihrem Schichtende für einen kleinen Fick in sein Hotelzimmer quatschen wollen, obwohl die sich doch gerade anschickte, ihren Feierabend allein in ihrem Trailer zu verbringen, um verlorenen Träumen nachzuweinen. Und seine Show war Rock-'N'Roll-Zirkus in Reinform: Der Mann ritt auf einem Surfbrett über die Köpfe des Publikums hinweg durch die Konzerthalle oder tänzelte durch einen auf der Bühne errichteten Boxring wie ein kubanischer Fliegengewichtler auf Speed. Fiebrig erhörte ich mir also das grandiose Frühwerk Van Halens jenseits des Provinz-Schützenfest-Hits "Jump" und lernte auch Roths göttliche Solo-EP "Crazy from the Heat" lieben, für die er mit "Just A Gigolo" schon mal seinen eigenen Nachruf eingesungen hatte.

Was mich an DLR faszinierte? Kann ich nur vermuten. Mit Silikon nachgerüstete, blondierte Bikinivorführmodelle, wie sie zu Hunderten durch seine Videos powackelten, waren selbst in meiner Hochpubertätsphase nicht so mein Ding, obwohl einem da ja die Sexualhormone aus den Ohren tropfen und jede zweite der Damen mich an die berühmte, viel zu kurze Sequenz im Vorspann von "Ein Colt für alle Fälle" erinnerte, als Heather Thomas alias Colt Seavers' Assistentin Jody Banks in einem himmelblauen Bikini eine Saloon-Tür aufstößt. Alle hetereo- und bisexuellen Männer, die als Teenager in den Achtzigern nur eine einzige Folge der Serie geguckt haben, werden sich an diese Szene erinnern. Oder sie lügen.

Vermutlich schenkte mir Roth schlicht eine Auszeit vom Stumpfsinn der Kohl-Ära, diesem Gemisch aus sonntagsbrätlicher Bräsigkeit und Feinripp-Bigotterie, das sich in einem katholischen Kuhdorf in Niedersachsen wie Giftgas unter die echten Güllewolken mischte und einem die Luft abschnürte. DLR dagegen war L.A. pur; sonnengebräunte Lebensfreude aus Kalifornien, ein Frank Sinatra des Hardrock, ein sex god with a smile , ein rockender Dildo auf zwei Beinen, der in glitzernden Spandexhöschen (die noch heute 90 Prozent aller CSD-Teilnehmer zu peinlich wären) sogar meine Skepsis gegenüber dem ungehemmt pro-kapitalistischen Subtext seiner Songs wegflirtete. Und zwar mit Stil und Humor: Trotz seiner Geilheit lief ihm nie Sabber aus den Mundwinkeln, sondern ein schelmisches Lächeln über die schmollmundigen Lippen.

Van Halen jedenfalls hatten mit dem Abgang von Roth und mit Sammy Hagar am Mikro viel von ihrem Charme eingebüßt, obwohl auch Alben wie "OU812" durch starkes Songwriting und Eddie van Halens über fast alle Zweifel erhabenes Gitarrengegniedel bestachen. DLR verlor ich nach seinem vierten Solo-Album aus den Augen, weil er sich bei einer Casino-Tingel-Tangel-Truppe in Las Vegas verdingt hatte. Zu der gehörten übrigens ein paar exotische Showgirls, denen Diamond Dave in einem Interview mal das entzückende Kompliment machte, sie seien so süß, er wette, sie schissen Zucker.

Seit 2007 hält DLR nun wieder das Van-Halen-Mikro, zunächst nur für eine Tour, jetzt erstmals für ein Album. "A Different Kind Of Truth" ist das erste Studiowerk mit neuen Songs seit dem Unfall "Van Halen III" aus dem Jahr 1998 und das erste mit DLR seit "1984" aus eben diesem Jahr. Und was soll man sagen? Die alten Säcke bringen's besser als erwartet.

Wobei: "Neu" ist Beschiss. Fans ereifern sich seit Wochen, dass viele Songs nur bisher unveröffentlicht (Demos aus den Siebzigern!) waren oder alten Stoff neu verwursten. "So fucking what?", würde Vixens Jan Kuehnemund ausrufen, die einzige weibliche Hair-Metal-Ikone der Welt, die bis heute ihren Halbbruder G. K. verleugnet, einen mäßig erfolgreichen Musikjournalisten aus D.. Und zwar nur, weil der unter frühzeitiger Verglatzung litt. Wie auch immer: Recht hat Jan Kuehnemund, und zwar was beide angeht, ihren Halbruder G.K. und DLR.

Was ist dagegen zu sagen, wenn Eddie Van Halen versucht, sich mit kindlicher Wollust seine Finger beim Spielen halbneuer Songs zu brechen? Wenn David Lee Roth eine musikalische Testosteron-Therapie ausprobiert, statt Viagra zu schlucken, um seine Erektionsstörungen in den Griff zu bekommen? Ist allemal besser, als eine Glam-Fun-Band wie Steel Panther, die mit dem ironischen Feinsinn eines drittklassigen Mario-Barth-Imitators die Achtziger nur billig abfeiert.

Denn obwohl ich dann doch nie ein ganz großer Verehrer Van Halens wurde, muss die simple Frage ja lauten: Taugt die frühe, jetzt veröffentlichte Ausschussware der Band etwas? Und selbst wer Bandleader Eddie Van Halen für ein Arschloch hält, dessen Arroganz nur von seinem Ego übertroffen wird, muss darauf fairerweise mindestens mit "Ja, ist schon okay" antworten (Obwohl das Songwriting von Chickenfoot, Sammy Hagars Supergroup, in der auch Ex-VH-Bassist Michael Anthony mitzupft, besser ist, aber die haben nun mal keinen DLR).

Sicher, auf dem Album gibt's nichts, was Van Halen nicht schon gemacht haben, dafür einiges, das anödet: das ziellos schlendernde "Honeybabysweetiedoll" zum Beispiel oder der "Big River", der trotz einiger atemberaubend wirbelnder Gitarrenstrudel auf halber Strecke zum Rinnsaal verdampft. "Tattoo" ist dagegen eine gefällige Singalong-Single, "China Town" eine flirrend hingerockte Großstadtphantasie, "Stay Frosty" eine arschcool abgehangene Soloeinlage für Roth und "As Is" ein rifflastiger, aber flockiger Partysong, in dem Eddie Tricks zeigt, die alle E-Gitarrenschüler heulend in die Arme ihrer Lehrer treiben wird, wo sie vergeblich nach Trost suchen werden, denn die verkraften das ja selbst nicht.

Viel Spaß also, liebe Freunde: Es kann gefeiert werden. Und Mütter: Passt auf Eure Töchter auf. Naja, wohl eher umgekehrt. (Gesamtwertung: 8 Punkte) Thorsten Dörting

Anspruch: Der neuen Nerdleitkultur zu zeigen, dass man Geilheit nicht mit Gadgets ersatzbefriedigen muss und man sexlose Physikerinformatikersoftwareentwickler-Existenzen nicht einmal dafür braucht, um eine Zeitmaschine zu entwickeln: Van Halen beamen uns ja schon so zurück in die Achtziger. (9,5)

Artwork: Sich selbst zu beklauen, geht ja gerade noch in Ordnung, aber ein Covermotiv von den Commodores (Lionel Richie! Geht's noch?) abzukupfern, ist erschreckend geschmacklos. Was kommt als Nächstes? Riffs von Chris De Burgh mopsen? Lyrics von Sido? (0)

Aussehen: Wie bei allen Rockern im reifen Alter übersteigt der Lederanteil in der Gesichtshaut mittlerweile den der Restgarderobe. DLR stehen die Folgen seiner jahrelangen, liebevollen Groupiebetreuung ebenso in die ehemalige Sunnyboy-Visage geschrieben wie sein nächtlicher Nebenjob als Hugh-Hefner-Vertretung im Playboy Mansion. Eddie Van Halens Looks haben eher wegen seiner innigen Freundschaft zur Flasche gelitten, obwohl er seine Phase als Boris-Becker-Doppelgänger mit blondierten Kurzhaarspitzen dankenswerterweise hinter sich gelassen hat. Dafür sieht sein auf dem Album bassspielender Sohn Wolfgang aus, wie ein 20-Jähriger nun einmal aussieht, der Wolfgang heißt und in der Firma seines Vaters arbeitet: etwas dick und etwas doof. (7)

Aussage: Sex im Alter? Wo ist das Problem? (8) Thorsten Dörting

Rage - "21"(Nuclear Blast/ Warner, erscheint am 24. Februar)

Jede Woche, die Satan uns schenkt, haben wir mit der Sichtung und Beantwortung von Leserbriefen zu tun, vor allem seit "Amtlich" auch innerhalb von Teilen der Hartwurst-Szene zum beliebten Hassobjekt mutierte. "Keine Rezension zum neuen Primal-Fear-Dreher? Maximum Metal, der Andy!" schrieb uns Leser Andreas Schöwe, "Studentendreck!" meint Axel Rudi Pell aus Wattenscheid, "Des isch oi wunderbare Sache mit dem Amtlich, hajo, so isch des, auch im Raum Schduddgard!", melden sich Kissin' Dynamite zu Wort. "Hallo, meine lieben Fans da draußen, hier ist eure Doro, ich liebe euch alle, was wäre ich ohne meine Fans? Auf meinem nächsten Weihnachtskonzert mit Udo, Lemmy und Onkel Tom gibt es ein exclusives Fan-Paket zu gewinnen!", heißt es in einem anonymen Brief, "Oi, hier ist der Udo, ich verstehe die Kritiken in 'Amtlich' fast nie, und mein sehr gut produziertes neues Langeisen 'Rev-Raptor' habt ihr auch vergessen, das hat meiner bescheidenen Meinung nach absolut nichts mehr mit Metal zu tun!", erreichte uns ein mit Wurstflecken geschmücktes Erpresserschreiben von der Ferieninsel Ibiza.

Wie soll da noch Zeit bleiben für die neue Rage-Scheiblette? Und vor allem: Warum muss ich jeden Monat Stechschritt-Metal und Teutonenstahl besprechen, nur weil ich vom Dorf komme und als Kind dachte, Gamma Ray sei Musik? Also: Rage, Ruhrpott, siebzigstes Album, Gott sei Dank ohne Orchester (im Ernst: Tausend Dank, Peavey!), sondern voll auffe Omme und natürlich die härteste und kompromissloseste Platte, die Rage jemals, usw.usf.

Mit dem Raab-Desaster "Gib' dich nie auf", das ja damals schon klang wie eine billigbierabhängige Onkelz-Coverband aus Erkenschwick, hat "21" nichts mehr zu schaffen: Der Titeltrack gehört ab sofort zu den melodienreichsten Rage-Momenten und Nackenbrecher wie die hundsgemeinen "Concrete Wall" und "Serial Killer" vereinen zwei im Deutschmetall eigentlich unvereinbare Dinge: Innovation und absolute Verlässlichkeit. Oder wie es der große Anthroposoph und Romancier Peter Hollecker formuliert hätte: "Reihenweise Metal-Granaten, die durch die Killergitarre des Meisters noch veredelt werden. 'Destiny' etwa, das sich gleich in die Gehörgänge frisst, ohne zu fragen, wie lange es dort verweilen darf. Sehr lange, soviel ist klar!"

Was keinesfalls darüber hinwegtäuschen soll, dass Peavy Wagners death growls ziemlich lächerlich sind und ich nach dem Hören dieser Platte doch keinen Gebrauchtwagen mehr von ihm kaufen würde. (Gesamtwertung: 6,5 Punkte) Jan Wigger

Anspruch: Den "Heavy, oder was?!"-Lesern abschließend demonstrieren, dass man immer und jederzeit "sein Ding durchgezogen" hat und dies ohne Rücksicht auf Elton-John-Fans in der ganzen Welt auch weiterhin zu tun gedenkt. (6)

Artwork: So schrottig wie immer. Leute, ihr seid beinahe 50! (4,5)

Aussehen: Tja, was soll man sagen? Türsteher im "Tanzcafé Hösl Dortmund". (4,5)

Aussagen: "Kopf oder Zahl", "Sei was du bist", "Fleisch ist Sex", "Angst ist Macht", "Gott". Ach nee, das sind ja Schlagwerk, die beschissenste Band Deutschlands. An den altbekannten Rage-Maximen hat sich nichts geändert: Das Haus gewinnt immer, wer tot ist, der bleibt auch tot, Psychoterror und Serientäter sind allgegenwärtig, wenn man dir alle Zähne auf einmal rausschlägt, ist das Schicksal, und wer sich eine brennende "Lucky Strike" auf dem linken Arm ausdrückt, ist ein ziemlich geiler Typ. Peavy Wagner sammelt übrigens Knochen. (8) Jan Wigger

Drudkh - "Eternal Turn Of The Wheel"(Season Of Mist, erscheint am 24. Februar)

Ein Konzeptalbum zu "Mein Kampf"? Eine Vertonung der Nürnberger Rassengesetze? Was war zu erwarten vom neuen Drudkh-Album? Um's vorwegzunehmen: Kollege Wigger, lag, wie üblich, mit seinen Vermutungen falsch.

Unbegründet war sein launig vorgetragener Verdacht natürlich nicht. Kenner der Black-Metal-Szene und Deutschlands Antifa-Front-Kämpfer zwischen Aalen und Zuzenhausen werden wissen, dass Roman Sajenko, Kopf der ukrainischen Band Drudkh, eine politisch nicht ganz blütenweiße Weste trägt, sondern eine mit bräunlich schimmernden Flecken. Mit seinem Projekt Hate Forest nahm er vor rund zehn Jahren den Song "Aryosophia" auf, der das giftige Süppchen des okkulten Rassismus aufkochte. Eine Art Best-Of-Album heißt "Nietzscheism". Und mit Drudkh ehrte er die "Ukrainian Insurgent Army", eine nationalistische Partisanentruppe, die kurz mit Hitlers Wehrmacht kooperierte, dann erst gegen die Deutschen und schließlich bis Ende der Vierziger gegen Stalins Rote Armee kämpfte und nebenbei zehntausende Polen vertrieb oder sie gleich abschlachtete.

Das ist eine Auswahl von Lowlights aus Sajenkos Werkverzeichnis. Nun lässt sich der ukrainische Ultra-Nationalismus (wie in vielen Ländern Osteuropas) historisch nicht in ein simples moralisches Täter-Opfer-Schema pressen. Und Sajenko unterscheidet sich vom norwegischen Nazi-Esoteriker, Mörder und Burzum-Hassprediger Varg Vikernes schon allein dadurch, dass er jedes Medium abseits der Musik und damit potentielle Propaganda-Plattformen meidet. Dennoch ist es nachvollziehbar, wenn die Henna-Haar- und Irokesenkopf-Fraktion in den linken Jugendzentren unserer Republik jetzt mit den Köpfen schüttelt: Muss man so einen zumindest zweifelhaften Gesellen mit einer Rezension würdigen?

Eine heikle Sache, sicherlich. Aber mal ehrlich: Die Gefahr, dass Sajenko dank dieses Textes Reichtümer anhäuft und sie womöglich Rechtsradikalen zuschustert, ist klein. Drudkh verzichten auf Konzerte, und mit Alben ist ja kaum noch Kohle zu machen, erst recht nicht in so einem Mini-Genre. Und die Agitationsgefahr? Gering. Die - unveröffentlichten, dazu unten mehr - Lyrics dürften selbst für jene nicht herauszuhören und damit unverständlich sein, die des Ukranischen mächtig sind. Interviews gibt's ja eh nie: wohl der Hauptgrund, warum niemand recht weiß, ob die Typen wirklich rechts sind. Deren einzig gezieltes Statement zu dieser Frage stammt aus der Zeit, als sie bei ihrem jetzigen Label unterschrieben und sich dort gegen den Vorwurf, politische Extremisten zu sein, explizit verwahrten. Stattdessen verwiesen sie auf "Individualismus, Selbst-Verbesserung und die Entfremdung von modernen Werten" als DNA ihrer Weltanschauung; eine Aussage, die freilich noch genug Freiraum für ideologische Ferkeleien lässt und natürlich ein reiner PR-Schachzug der Band sein kann.

Trotzdem könnten sich krittelnde Diskurswächter ja mal fragen, wie weltoffen es ist, den Ost-Pop der Marke Ruslana mit seinem tittensatten Trash-Faktor alljährlich beim Eurovision Song Contest mit gönnerhaft ironischem Kichern abzunicken, aber ansonsten ein herzliches Desinteresse an den (Pop-)Kulturen des Ostens zu zeigen, und seien sie auch eklig. Schließlich und endlich rechtfertigen rein ästhetische Gründe diesen Text: Drudkh entführten ihre Hörer in der Vergangenheit mindestens zwei Mal in künstlerische Höhen, die nur sehr wenige je erreichen. "Forgotten Legends" war eine grandiose, minimalistisch melancholische Black-Metal-Medidation über die Natur, "Autumn Aurora" ein ebenso großartige, folkig-verspielte Variation desselben Themas.

Jetzt erscheint also "Eternal Turn Of The Wheel", mit dem Sajenko beweist, dass er einen riesigen Hau hat, und zwar völlig unabhängig von einer möglichen Nähe zur National-Socialist-Black-Metal-Szene. Denn er versucht etwas, das vor rund 300 Jahren vielleicht mal cool war, als Vivaldi seine "Vier Jahreszeiten" vorlegte: Sein Album versammelt ein Intro und vier Monumental-Songs, die nicht weniger als den Zyklus der Jahreszeiten abbilden sollen. Das entbehrt jeglicher pop- und postmodernen Ironie, ist simpel, pathetisch, prätentiös - und ein musikalisch gut gelunger Schwindel.

Denn Drudkh denken ihr gesamtes Album allein vom Winter her, vom Frost, vom Ende, vom Tod. Und so erweist sich der letzte Track des Albums, "Night Woven Of Snow, Winds And Grey-Haired Stars" als Höhepunkt und finaler Eiseshauch einer musikalischen Totenreise, deren grausamen Zauber nur erfassen kann, wer sie als Hörer mit eigenen Ohren mitgemacht hat. Alle anderen können sich wohl nur mit einer herbeifantasierten Geschichte behelfen, die ebenso ironiefrei, simpel, pathetisch und prätentiös ist wie das Konzept des Albums.

Versuchen wir mal, uns so eine Geschichte auszudenken, uns ist ja nichts zu doof: Ein Mensch erfährt, dass er nur noch ein Jahr zu leben hat. Er entscheidet sich, die ihm verbleibende Zeit damit zu verbringen, seine ukrainische Heimat zu durchwandern und so Abschied zu nehmen von der Welt. Was er sehen wird, wird er nur noch einmal sehen, das weiß er. Er schreitet durch die im zarten Frühlingslicht ergrünenden Rotbuchenwälder der Karpaten. Im Sommer zieht er durch die Steppe, vorbei an endlosen, korngelben Feldern. Er lässt im Herbst den Blick schweifen über den glutroten Abendhimmel am Asowschem Meer, die Sonne geht unter, die Dunkelheit naht, auch für ihn. Und je mehr er von all der Naturpracht aufgesogen hat, je stärker sie ihn anrührt, desto größer werden Wut und Verzweiflung darüber, sie bald hinter sich lassen zu müssen. Und doch versinkt er am Ende geschwächt im Schnee der Karpaten, dort, wo seine Wanderung begann. Ein letztes Mal richtet er seinen Blick in den kristallklaren Nachthimmel, dann schließt er für immer die Augen. Und die Musik ist aus.

Drudkh kehren mit ihrem neunten Album zurück zu ihren Anfängen, zu einer beängstigenden, manchmal aber allzu monotonen Wucht, die von grimmig heranwehenden Gitarrenböen und vor allem einem grausam verzweifeltem Wutgekeife getragen werden und erbarmungslos das Gemüt des Hörers vereisen. Nur wenige, versteckt in das Inferno eingewobene Melodien und die thematisch offensichtlichen, oft bewusst kaum hörbaren Soundeffekte versprechen kurzzeitig Erleichterung. Doch all das eingespielte Grillengezirpe oder das Möwengeschrei, der Klang von stapfenden Füßen im Schnee oder die dezent eingesetzten Keyboardteppiche dringen nie ganz an die Oberfläche der Lieder: alle Linderung bleibt bloße Hoffnung und alle Hoffnung ist vergebens. Musik für Menschen, die diesen Winter noch nicht genug gefroren haben. (Rein musikalische Wertung: 8) Thorsten Dörting

Anspruch: Kälte zum Klingen bringen. (Ohne Wertung)

Artwork: Variante a): Drudkh haben den Illustrator der ukrainischen Ausgabe von "Grimms Märchen" beauftragt, ein maßvoll schauerliches Bild eines bezopften Wanderers zu malen, der in einen Düsterwald eintritt. Variante b): Drudkh haben den Illustrator der ukrainischen Ausgabe von "Mein Kampf" beauftragt, ein maßvoll schauerliches Bild eines bezopften Wanderers zu malen, der in einen Düsterwald eintritt und ihn zusätzlich gebeten, als Wink an ihre rechten Gesinnungsgenossen, das gesamte Motiv in dann doch auffälliger Weise spiralenartig leicht zu verzerren, so dass die Optik in Verbindung mit dem Begriff "Wheel" Assoziationen zum Sonnenrad hervorruft, das unter Neo-Heiden und Neo-Nazis ein gleichermaßen beliebtes Symbol ist. Journalistische Paranoia? Mag sein. (Ohne Wertung)

Aussehen: Offiziell gibt's ja keine Bilder von Sajenko, aber wer googelt, wird fündig. So sieht also ein metaphysischer Rassist aus? Ein Neo-Heide mit rechtsradikalen Neigungen? Oder ist das doch nur der harmlos bullige Typ von der Stadtreinigung, der mich letzten Herbst mit seiner Laubsaugerei vorm Schlafzimmerfenster genervt hat? (Ohne Wertung)

Aussage: Als Roman Sajenko hörte, dass spiegel ONLINE das Drudkh-Album besprechen will und daher um die Lyrics bat, hat er laut Aussage des Labels geantwortet: "Endlich eine geschmackvolle Anfrage." Wir bekamen die Texte also entgegen der üblichen Band-Praxis zugeschickt - natürlich auf ukrainisch, natürlich in kyrillischer Schrift abgefasst. Da wir aber bekanntlich für diese Kolumne weder Kosten noch Mühen scheuen, engagierte unser Moskau-Korrespondent eine Übersetzerin, und zwar lustigerweise Anna Hutsol, die Gründerin der Anti-Sex-Tourismus-Bewegung Femen. Was dabei herauskam, ist in politischer Hinsicht unverfängliche, etwas morbide Naturlyrik. Kostprobe: "Der Winter kommt immer/ Unerwartet, nachts. /Kommt,/ nachdem er sich losgerissen hat aus seiner/ diesigen Höhle,/ dort, am Rande/ des ewigen Dunkels./ Und es scheint/ die Ewigkeit selbst/ ist gehämmert aus Eis,/ bedeckt von weißem Schnee, gewebt aus Reif." (Ohne Wertung) Thorsten Dörting

Lamb Of God - "Resolution"(Roadrunner Records, bereits erschienen)

Wenn man - wie es als spiegel-ONLINE-Redakteur unausweichlich der Fall ist - zu den Spitzen der Gesellschaft zählt und alle Statusziele erreicht hat, wenn man nur noch mit den Eliten aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Sport verkehrt oder über sie berichtet (Guttenberg, Hunziker, Kim Dotcom, Matthäus), ist es gute Sitte, dem Staat und seinen Bürgern etwas zurückzugeben und jenen auf die Beine zu helfen, die weniger Glück hatten im Leben als man selbst.

Ich erteile deshalb, nachdem ich vergangenes Jahr einen geistig und körperlich verlotterten Schreiberling aus der Gosse gerettet und ihm zu einer zweiten Chance als Co-Autor dieser Kolumne verholfen habe, neuerdings ehrenamtlichen Umschulungsunterricht für perspektiv- und arbeitslose Jugendliche. Einerseits, um junge Menschen aus ihrer oft unverschuldeten Misere zu leiten. Andererseits, um die Hartz-IV-Statistik zu schönen, damit das Volk nicht aufmuckt und anfängt, an unserer Wirtschaftsordnung und damit an den Pfeilern meines Wohlstands zu sägen, denn dann könnte ich ja nicht mehr mit großer Geste mildtätig sein.

Und so gebe ich einmal wöchentlich den Fortbildungskurs "Grundlagen der Metallkunde" an der Berufsschule Hamburg-Mümmelmannsberg, in dem ich Hip-Hopper im Alter von 8 bis 88 Jahren in Geschmacksbildung unterrichte und versuche, ihnen Wege aufzuzuzeigen, um von ihrer unheilvollen Leidenschaft loszukommen, die sie oft nicht nur in eine intellektuelle ("Blutzbrüdaz", "Heavy Metal Payback"), sondern auch soziale Sackgasse führt ("Posse", "Ersguterjunge"). Der Kurs, dafür sei an dieser Stelle herzlich gedankt, wird großzügig unterstützt von der Michael-Kiske-Stiftung für Musikalische Rehabilitation.

Als mich meine HipHop-Umschüler kürzlich baten, ihnen aus Anlass der Veröffentlichung des neuen Albums den Sound von Lamb Of God zu beschreiben, dachte ich mir ein Beispiel aus ihrem Lebensbereich aus: Wenn sie einem Uhrenmechaniker der in ihren Kreisen beliebten Marke Rolex einen Baseballschläger in die Hand gäben, und den Mann vor die unmöglich erscheinende Aufgabe stellten, mit dem Prügel das defekte Uhrwerk ihres mit Kleindealer-Profiten bezahlten Chronometers zu reparieren und ihm das sogar gelänge - dann bekämen sie eine Ahnung von der Präzision, mit der diese Band trotz des Einsatzes brutalster Mittel zum Ziel kommt.

Die Schüler nickten anerkennend, wie Hip-Hopper nun mal so nicken. Als aber einer die Frage nachschob, wie oft die Wörter "Bitch", "Pussy" oder "Nigger" in den Lyrics von Lamb Of God vorkämen, musste ich passen: "Gar nicht?" Die Unterrichtsstunde war damit vorzeitig beendet, weil alle enttäuscht den Raum verließen, um ihr Tagwerk zu verrichten (Kiffen aufm Sofa). Ich blieb zurück, notierte aber als Gedankenstütze schnell ein paar Stichpunkte zu Lamb Of God, weil ich prompt an die anstehende "Amtlich"-Rezension denken musste.

1. Folgende Begriffe vermeiden: Groove Metal, Neo-Thrash, New Wave of American Heavy Metal, Metalcore, Punk, Hardcore. Und Pantera. 2. Überragend: "Ghost Walking". Großer Hit. 3. Sehr gut: "The Number Six", "Insurrection". Kleine Hits. 4. Überraschend: "King Me". Klargesang, Keyboards, Opernsängerin, wer hätte das von LOG gedacht. Aber missglücktes Experiment, weil smarte Arrangements vorne, Schmalz nach hinten raus. Stichwort: Nightwish am Arsch. 5. Gewohntes LOG-Problem: Songmaterial zu uniform. Stichwort: Nordkorea. 6. Gewohnte LOG-Stärken: a) Unfassbar brutales und exakt getimtes Riffing. Stichwort: Assad mit Schweizer Uhr am Handgelenk. b) Unfassbar anspruchsvolle Percussion. Stichwort: Tito Puente mit Tollwut. c) Versteckte Details, auf viele Sachen hört man erst bei der zehnten Wiederholung. Stichwörter: Wie bei Freundin/ Chef/ schlechtem Gewissen. 7. Fehler vieler Bands: Gesamteindruck geschwächt, weil Album mit Songs bis zum Bersten aufgefüllt, statt Beschränkung auf wirklich starke Nummern. Motto: Weniger wäre mehr. Stichwörter: Slipknot/ Westerwelle/ Hans-Werner Sinn. 8. Direkter Vergleich mit den (entfernt) genre-verwandten Label-Kollegen von Machine Head: deutliche - aber nicht demütigende - Niederlage. Gründe: a) das Songwriting von MH ist besser und b) sie haben den Fehler unter Punkt 7 weitestgehend vermieden. 9. Sind LOG in Europa nicht so erfolgreich wie in den USA, weil sie studiert haben und zu viele Bücher lesen? 10. Sind LOG in Europa nicht so erfolgreich wie in den USA, weil sie in Attitüde und Aussehen nach "Alternative Metal" riechen? 11. Memo: Wigger ärgern und ihn zur Besprechung einer Teutonenstahl-Scheiblette zwingen. Bei Widerstand mit Honorar-Kürzung drohen. 12. Mit meinen "Metallkunde"-Schülern aufm Sofa kiffen, damit ich diese Kolumne überhaupt schreiben kann. 13. Warum kriegt nur Wigger Promo-CDs mit aufgemalten Herzchen? 14. (Gesamtwertung: 7,5 Punkte) Thorsten Dörting

Anspruch: Psychische und gesellschaftliche Abgründe mit den präzisen Mitteln der musikalischen Laserchirugie aufzuschneiden, dabei aber auf schmerzlindernde Anästhetika völlig zu verzichten. Abgesehen davon: Laut eigener Aussage dann aufhören, wenn die Band das Gefühl hat, nicht mehr relevant zu sein. Oder die Bandscheiben von Sänger Randy Blythe ihn zum Rumstehen auf der Bühne zwingen. (8)

Artwork: Das jährliche Mitgliedertreffen des Vereins "Freie Fahrt für blinde Porschefahrer e.V." wird mit gutem Grund auf dem Salar de Uyunia, einem Salzsee in Bolivien abgehalten. Die Weite des Raums erlaubt in aller Regel, dass die autobegeisterten Sehgestörten unfallfrei und voneinander unbehindert ihrem Hobby nachgehen können. Dennoch sind Kollisionen nicht auszuschließen, wie das nun für das LOG-Cover verwendete Foto aus dem Jahr 2009 zeigt. Zum Glück bekam das Bild bisher kein Vereinsmitglied zu sehen. (5)

Aussehen: Respekt! Klassisch kaputte Vietnamkriegs-Veteranen. Und das, obwohl sie noch Kleinkinder waren, als der Krieg bereits zu Ende war. (9)

Aussage: Wer auch nur auszugsweise das Rennen um die republikanische Präsidentschaftskandidatur in den USA verfolgt hat, ahnt, dass es endgültig Zeit ist, das politische System der Vereingten Staaten zu unterwandern. Dieser Mann steht bereit: LOG-Sänger Blythe hat vor kurzem seine Kandidatur bekanntgegeben. Seine erste Amtshandlung, sollte er ins Weiße Haus gewählt werden: Ein Scharfschütze der Navy Seals soll ihm ins Bein ballern. Begründung? Ein Staatsoberhaupt sollte nur Soldaten in den Krieg schicken, wenn es bereit ist, ein ähnliches Schicksal wie sie zu erleiden. Das ist mal Populismus mit Haltung! (8,5) Thorsten Dörting

Alle bisherigen "Amtlich"-Kolumnen finden Sie hier. Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)


UPDATE: 9. Februar 2012


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8. Februar 2012 Mittwoch 6:36 PM GMT+1 


Hamburg geht aufs Glatteis


RUBRIK: WINTERALSTERVERGNÜGEN GENEHMIGT


LÄNGE: 523 Wörter



HIGHLIGHT: Das Eis ist dick genug: Die Umweltbehörde hat Hunderttausende Hamburger zu einem riesigen Winterfest eingeladen. Freitagmittag beginnt das Eisvergnügen auf der gefrorenen Alster, erstmals seit 15 Jahren. Kältefans sollten am Wochenende Schlittschuhe oder dicke Stiefel anziehen.; http://www.spiegel.de/reise/aktuell/0,1518,814166,00.html


Hamburg - Zentimeter für Zentimeter frisst sich der Bohrer ins dunkle Eis der Hamburger Außenalster. Wilhelm Mähl, Fachmann für Wasserwirtschaft bei der städtischen Umweltbehörde, klopft den Bohrkopf frei und senkt die Spitze wieder ins Eis. Kurz darauf schwappt Wasser an die Oberfläche. Mähl stochert mit einem Messstab im Bohrloch und liest die Markierung ab. "Das sind, jo, knapp 20 Zentimeter", sagt er. 

Die Umweltbehörde will kein Risiko eingehen. Bevor die endgültige Entscheidung über das Winterspektakel auf der Außenalster fallen konnte, musste Mähl noch 32 weitere Löcher bohren, an verschiedenen Stellen. Jetzt steht fest: Das Eis ist dick genug. "Ich freue mich, Ihnen zu sagen, dass das Alstereisvergnügen am Wochenende stattfinden kann", verkündete Umweltsenatorin Jutta Blankau (SPD) am Mittwochnachmittag. "Meine Fachleute sagen: Es hält."

Am Freitagmittag soll der Budenzauber beginnen. Die Imbiss- und Getränkestände seien Freitag bis 18 Uhr und am Samstag und Sonntag von 10 bis 18 Uhr geöffnet, teilten die angrenzenden Bezirke mit. Die Buden sollen jedoch nicht auf dem Eis, sondern am Ufer aufgestellt werden. So würden sich nicht so viele Menschen auf dem Eis zusammendrängen, und der Blick auf die Stadtsilhouette bleibe frei, erklärte der Sprecher der Umweltbehörde, Frank Krippner. Auch lande dann nicht so viel Müll auf der Alster. Gefahrenzonen wie die Eisflächen unter Brücken und die Fahrrinne am östlichen Ufer würden noch markiert, sagte die Senatorin bei der Bekanntgabe der Entscheidung.

"20 Zentimeter blasenfreies Eis"

Beim bisher letzten offiziellen Alstereisvergnügen vor 15 Jahren standen rund 150 Buden auf dem zugefrorenen innerstädtischen Gewässer - damals sei eine Dicke von 30 Zentimetern gemessen worden, sagte der Behördensprecher. Im Winter 2009/2010 hatte es trotz wochenlanger Kälte keine offizielle Genehmigung gegeben. Dennoch hatten sich Ende Januar 2010 an einem Wochenende 80.000 Hamburger auf eigene Gefahr auf die zugefrorene Außenalster gewagt.

"Was wir brauchen für ein erfolgreiches Alstervergnügen sind 20 Zentimeter blasenfreies Eis", hatte Krippner bei der ersten Bohrung am Mittwochmorgen gesagt. Mit den 15 bis 22 Zentimetern Dicke, die die Messungen nun ergeben haben, ist er zufrieden. Auch die Vorhersage des Instituts für Wetter- und Klimakommunikation, die Minusgrade und viel Sonnenschein verspricht, kommt den Hamburgern gelegen.

Trotz der Ankündigung, dass das Alstereisvergnügen stattfinden kann: Das Risiko beim Betreten der Eisfläche trägt jeder selbst. Die Behörde gebe nicht grundsätzlich eine Eisfläche zum Betreten frei, sagt Krippner. Die vielen Eisläufer und Spaziergänger, die die schneegefleckte Fläche bereits erobert haben, handeln also auf eigene Gefahr - auch die Eishockey-Profis der Hamburg Freezers, die ihr Training am Mittwochnachmittag schon mal auf die Außenalster verlegten.

Vor dem Betreten der Binnenalster jedoch warnt die Umweltbehörde ungeachtet der Messergebnisse im äußeren Teil des Gewässers. Weil an mehreren Stellen der Binnenalster Wasser zuläuft, sei die Eisdecke dort nicht stabil. "Hier herrscht akute Lebensgefahr", sagt Krippner.

jus/dapd


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8. Februar 2012 Mittwoch 11:43 AM GMT+1 


Flirten im Verkehr


AUTOR: Christoph Stockburger


RUBRIK: SOZIALES NETZWERK FÜR AUTOFAHRER


LÄNGE: 524 Wörter



HIGHLIGHT: Verwünschungen, Liebesbotschaften, Respektsbekundungen: Es gibt so vieles, was man den anderen Autofahrern sagen oder an den Hals wünschen möchte. Ein soziales Netzwerk sorgt nun dafür, dass die Nachricht beim Empfänger ankommt.; http://www.spiegel.de/auto/aktuell/0,1518,813935,00.html


Der Typ im Audi, der einem die Vorfahrt nimmt, das Mädchen im Ford, das in den Rückspiegel und einem direkt in die Augen schaut, der Senior im Heckflossen-Mercedes, der vielleicht sein Auto verkaufen möchte. Wer sich im Auto bewegt, kennt diese Situation: Man möchte Kontakt aufnehmen. Und kann es nicht. 

Jetzt kann man: Denn bei dem Onlinedienst flincar.com meldet man sich nicht nur mit dem Namen an, sondern auch mit dem Nummernschild - und kann so Botschaften an andere Verkehrsteilnehmer senden und über das eigene Kennzeichen Nachrichten empfangen.

"Man wird den Verkehr anders wahrnehmen", verspricht Constantin Essmeyer. Der Wirtschaftsstudent aus Wilhelmshaven ist einer der Erfinder von flincar. Zusammen mit seinem Schulfreund Michael Lauer, einem Mediengestalter aus Magdeburg, hat der 27-Jährige die Seite eingerichtet.

Die Idee sei ihm beim Lesen der Lokalzeitung gekommen, erzählt Essmeyer. Ihm sei aufgefallen, dass in Annoncen immer wieder Leute über ihre Autokennzeichen gesucht werden: "Habe Dich in einem grünen Golf mit der Nummer XYZ gesehen, bitte melde Dich". Diese Suche soll jetzt im Internet stattfinden, auf flincar. Nur gezielter, umfangreicher und billiger.

Das Autokennzeichen als Chiffrenummer

Der Dienst ist kostenlos. Man legt ein Profil an und kann dann an jedes beliebige Nummernschild in Deutschland eine Nachricht schreiben. Oder bis zu drei Fahrzeuge angeben, über deren Nummernschilder man Botschaften empfangen kann.

"Klarnamen erwarten wir nicht", sagt Essmeyer. Ob das eine gute Idee ist, wird sich noch herausstellen. Denn seit flincar im November 2011 online gegangen ist, wird vor allem eins: gemotzt.

"Die meisten Einträge sind Beschwerden", gibt Essmeyer zu. Im Alltagsverkehr überwiegen nun mal die Situationen, in denen man andere Fahrer eher anbrüllen als ihnen etwas zusäuseln möchte. "Das macht die Seite erst richtig interessant", findet der Student.

Derzeit würden er und sein Mitstreiter die Kommentare kontrollieren, bei Verbalattacken unter der Gürtellinie werden die Einträge gelöscht. Außerdem könnten Beleidigungen von den Mitgliedern gemeldet werden.

Der Gründer ist unerreichbar

Dass sich Essmeyer und Lauer selbst um die Kontrolle der Kommentare kümmern können, liegt an deren bescheidener Zahl. Noch herrscht auf flincar nämlich nicht viel Verkehr. Einige Hundert Mitglieder hätten sich bislang registriert, so Essmeyer, aber genutzt werde die Seite immerhin täglich. Die beiden Gründer hoffen, dass bis Ende 2012 rund 10.000 Leute auf flincar aktiv sind.

Ein ähnliches Angebot in den USA hat diese Marke bereits weit überschritten: Die Onlineplattform bump.com ist im März 2011 online gegangen, laut den Betreibern haben sich dort schon 75.000 Leute registriert. Von solchen Zahlen können Essmeyer und Lauer im Moment nur träumen. Als erste Reklame haben sie Aufkleber drucken lassen.

An eine Vermarktung von flincar denke er noch nicht, sagt Essmyer, dazu brauche es viele Mitglieder. Irgendwann solle das Start-Up aber Profit abwerfen. Vielleicht leistet er sich dann sogar ein Auto - dem Gründer von flincar kann man bislang mangels Kennzeichen nämlich noch keine Nachricht hinterlassen.


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7. Februar 2012 Dienstag 8:21 PM GMT+1 


"In Deutschland hat doch keiner eine Ahnung"


AUTOR: Johannes Korge ; Ferry Batzoglou


RUBRIK: STREIK IN GRIECHENLAND


LÄNGE: 1024 Wörter



HIGHLIGHT: Züge fahren nicht, Krankenhäuser machen nur Notdienst - ein Streik lähmt Griechenland. In Athen gingen Zehntausende auf die Straße. Mit letzter Kraft wehren sich Gewerkschaften gegen die Eingriffe der EU und den Umbau der Gesellschaft.; http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,813939,00.html


Sie haben es wieder einmal versucht. Wieder einen verzweifelten Nadelstich gesetzt. Rund 15.000 Menschen werden es wohl gewesen sein, die am Dienstag Vormittag durch Athen zogen und wütend ihre Parolen gegen das Spardiktat in den Winterhimmel brüllten. Ob die Verhandlungsführer sie gehört haben?

In einem tristen Gebäude in der nahe gelegenen Zalokosta-Straße traf sich zeitgleich mit der Massendemo Finanzminister Evangelos Venizelos mit den internationalen Finanzkontrolleuren. Am frühen Abend hieß es, man habe sich auf die Eckpunkte für ein neues Sparprogramm verständigt. Es könnte eine Hängepartie beenden, die Griechenland seit Wochen lähmt. 

Das für Dienstag geplante Treffen des griechischen Ministerpräsidenten Loukas Papademos mit den Vorsitzenden der Regierungsparteien ist auf Mittwochmorgen verschoben worden - dabei sollen "Feinheiten" des Sparprogramms mit den Kontrolleuren der internationalen Geldgeber abgestimmt werden. Die Übereinkunft über das Sparprogramm gilt als Voraussetzung für alle weiteren Schritte wie die Zustimmung der EU zur Zahlung der nächsten Hilfstranche und auch des neuen 130-Milliarden-Hilfspakets für Athen.

Papademos wollte sich noch am Dienstagabend erneut mit der Troika, Vertretern von EU, EZB und IWF treffen. Außerdem traf sich Papademos auch mit dem Geschäftsführer des Internationalen Bankenverbandes IIF, Charles Dallara, sowie erstmals auch mit dem IIF-Präsidenten, dem Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann.

Beobachter werteten dies als Hinweis, dass die parallel laufenden zähen Verhandlungen über einen Forderungsverzicht der privaten Gläubiger kurz vor dem Abschluss stehen könnten.

Klar ist aber auch: Der Preis für die frischen Milliarden wird schmerzhaft sein, denn die Wut im Land wächst. Und das neu aufgelegte Sparprogramm ist alles andere als geeignet, die Gemüter zu beruhigen.

Allein in diesem Jahr sollen 15.000 Stellen im öffentlichen Dienst wegfallen. Das ist jedoch erst der Anfang. Bis 2015 wolle man sogar 150.000 Stellen im Staatsdienst einsparen, hatte der griechische Minister für Reformen, Dimitrios Reppas, mitgeteilt.

Die Liste lässt sich fortführen. Die Staatsausgaben sollen um 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesenkt werden. Auch die Löhne werden sinken, die Lohnnebenkosten ebenfalls radikal beschnitten. Davon verspricht sich die Regierung, die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu steigern.

Wie aufgeheizt die Stimmung schon vor der Einführung dieser Maßnahmen ist, zeigt sich am Beispiel von Stathis Anestis. Der Mittfünfziger ist Vize-Chef der Gewerkschaft der Privatangestellten in Griechenland. An seinem Schreibtisch in der neoklassizistischen Zentrale im Herzen Athens redet sich Anestis in Rage: "In Deutschland hat doch keiner eine Ahnung, was für Umwälzungen hier im Gange sind und was für Opfer von uns verlangt werden."

Noch wütender wird Anestis, wenn es um die die ungeliebten Beobachter der Troika geht. Diese schaffe kurzerhand ab, was bis zuletzt "heilig war": den flächendeckenden Tarifvertrag (ESS). An dessen Stelle sollen individuell ausgehandelte - sprich: schlechter vergütete - Einzelverträge treten. Das Prozedere ebenso wie das Verhalten der Inspektoren sei "vollkommen inakzeptabel", reihe sich aber lückenlos in die Forderungen nach Sparkommissar oder Sperrkonto ein.

Gewaltbereite mischen sich unter die Demonstranten

Deshalb setzt er mit seiner Gewerkschaft auf kurzfristige Blitzstreiks. Es ist eine Taktik der Nadelstiche. Für mehr - einen flächendeckenden und vor allem länger ausgelegten Streik etwa - sieht er derzeit jedoch keinen Spielraum. "Die Menschen werden an Tagen der Arbeitsniederlegung nicht bezahlt, die meisten können sich nicht mehr als 24 Stunden Ausstand leisten."

Er fürchtet dennoch eine Radikalisierung des Protests. Während der Streiks am Dienstag blieb es bei kleineren Scharmützeln mit der Polizei, die Tränengas einsetzte. Bei einer Parallel-Protestaktion in Heraklion auf Kreta ging die Glasfassade des Gerichtsgebäudes in Scherben. Noch sind die Sachschäden überschaubar, doch das könnte sich mit der zunehmenden Belastung für die Bürger ändern. Immer öfter, so berichtet Gewerkschaftsmann Anestis, mischen sich Gruppen unter die Streikenden, denen es nicht mehr um die politische Auseinandersetzung geht. "Wenn die gewaltbereiten Personen irgendwann das Heft völlig in die Hand nehmen, haben wir hier ein Irrenhaus."

Vertreter von Linksparteien verurteilten die seit dem Frühjahr 2010 betriebene Wirtschafts- und Finanzpolitik aufs Schärfste. "Jetzt liegt die Verantwortung ausschließlich in den Händen des Volkes. Die Regierung muss fallen - sofort", drängt die Chefin der im Parlament vertretenen Kommunistischen Partei (KKE), Aleka Papariga.

Auch der Führer der Linksallianz (Syriza), Alexis Tsipras, fordert Widerstand: "Andernfalls werden wir in den langsamen Tod geführt. Die seit zwei Jahren betriebene Politik hat nicht das Geringste mit der Rettung des Landes und der Wirtschaft zu tun, sondern stellt einen Plan zur Verarmung der Griechen dar."

Themis Balasopoulos, Chef der Gewerkschaft der Kommunalangestellten (Poe-Ota) mit rund 70.000 Mitgliedern, sagte: "Die Städte und Kommunen sind nur noch bis April handlungsfähig. Sie warten nicht nur auf bereits zugesagte Finanzmittel in Höhe von 500 Millionen Euro im laufenden Jahr. Jetzt sollen zusätzlich 500 Millionen Euro gestrichen werden." Ferner seien Entlassungen geplant, die Reinigungsdienste sollen privatisiert werden." Das ist für uns eine Kriegserklärung", so Balasopoulos.

Nicht nur auf der Straße, sondern auch politisch scheint sich die griechische Bevölkerung zusehends zu radikalisieren. Die sozialistische Regierungspartei Pasok kommt derzeit nur noch auf acht Prozent der Wählerstimmen. Dies zeigt eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Public Issue, deren Ergebnisse spiegel ONLINE vorab erfuhr. Die Verluste sind drastisch: Im Oktober 2009 hatte die Partei noch knapp 44 Prozent der Stimmen erhalten. Die konservative Neue Demokratie käme bei Neuwahlen auf 31 Prozent. Neben der weiter erstarkenden Linken würde erstmals auch der rechtsextreme Partei Chrisi Avgi ("Goldene Morgenröte") den Sprung über die Drei-Prozent-Hürde schaffen.


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7. Februar 2012 Dienstag 6:48 PM GMT+1 


Der lange Arm des Assad-Regimes


AUTOR: Matthias Gebauer


RUBRIK: SYRISCHE AGENTEN IN BERLIN


LÄNGE: 1029 Wörter



HIGHLIGHT: Zwei mutmaßliche syrische Agenten wurden in Berlin festgenommen. Sie sollen Gegner des Regimes von Diktator Assad ausspioniert haben. Der Fall ist diplomatisch besonders heikel, da einer der Spione bei der syrischen Botschaft angestellt war.; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,813918,00.html


Berlin - Bevor die Beamten des Bundeskriminalamts (BKA) und der Landesbehörden am Dienstagmorgen in der Hauptstadt zuschlugen, sendeten sie eine kurze und doch brisante Mitteilung ans Auswärtige Amt (AA). Durch die geplante Festnahme von zwei mutmaßlichen Agenten des syrischen Geheimdienstes und mehrere Razzien könne es durchaus zu diplomatischen Verwicklungen mit Syrien kommen, hieß es in der kurzen Note. Deswegen wolle man die Diplomaten lieber vorab in Kenntnis setzen.

Kurz danach begannen rund 70 Beamte mit ihrem Auftrag und nahmen den 34-jährigen syrischen Staatsangehörigen Akram O. und den 47-jährigen Deutsch-Libanesen Mahmoud El A. fest. Außer bei den beiden Festgenommenen durchsuchten sie auch noch die Wohnungen von fünf anderen Personen, darunter zwei weitere Syrer, zwei Syrer mit deutschem Pass und ein weiterer Libanese mit deutschem Pass. Der Vorwurf gegen die Männer ist schwerwiegend: Über Jahre hinweg, heißt es in einer Mitteilung der Generalbundesanwaltschaft, sollen sie im Auftrag des syrischen Geheimdienstes systematisch in Deutschland lebende Exil-Syrer ausgeforscht haben. 

Die ermittelnden Behörden hielten sich am Tag der Festnahmen mit weiteren Details zurück, zunächst wollen sie die beiden Verdächtigen am Mittwoch einem Haftrichter vorführen. Aus Sicherheitskreisen aber hieß es, der für die Spionageabwehr zuständige Verfassungsschutz habe das Duo schon länger beobachtet. Es wurden Beweise gesammelt, wie die beiden Beschuldigten mit Hilfe der anderen Verdächtigen in Deutschland Exil-Syrer ausgeforscht und Informationen über eine mögliche Unterstützung von hier lebenden Oppositionellen gesammelt haben soll.

Besonders aktiv seien die Verdächtigen geworden, nachdem es im Zuge des Arabischen Frühlings auch in Syrien erste massive Aufstände gegen das Regime von Diktator Baschar al-Assad gab.

Nach den Festnahmen kursierten Gerüchte, die mutmaßlichen Spione könnten mit dem Überfall auf einen syrischen Oppositionellen in Berlin im Dezember 2011 zu tun haben: Ferhad Ahma war damals von zwei Unbekannten an der Haustür seiner Wohnung angegriffen und schwer verletzt worden. Er beschuldigte den syrischen Geheimdienst, für die Attacke verantwortlich zu sein. Gegenüber spiegel ONLINE aber sagten mehrere Fahnder, es gebe zwischen dem Angriff auf den Oppositionellen, den Ermittlungen und aktuellen Festnahmen der beiden mutmaßlichen Agenten keinen Zusammenhang.

Gegen beide Männer war bereits Ende Januar ein Haftbefehl wegen des Verdachts der Tätigkeit für einen ausländischen Nachrichtendienst erlassen worden. Ihre Festnahme kommt zu einem Zeitpunkt, da der diplomatische Druck gegen Syrien und Assad einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat: Bis auf den letzten Verbündeten Russland ist Damaskus so isoliert wie noch nie, trotzdem aber gehen die Sicherheitskräfte von Assads Regierung jeden Tag weiter brutal gegen die Opposition im eigenen Land vor. Den Versprechen des Staatschefs, er sei an einer politischen Lösung interessiert, glaubt mittlerweile niemand mehr.

Westerwelle bestellt Botschafter zum Rapport

Das Amt von Außenminister Guido Westerwelle spielt bei den internationalen Bemühungen gegen Assad eine sehr aktive Rolle. Der FDP-Politiker hatte übers Wochenende selbst intensiv verhandelt, um das russische Veto gegen eine Resolution des Uno-Sicherheitsrats zu Syrien aufzuweichen. Einen Tag vor dem Zugriff bestellte das Außenamt am Montag den syrischen Botschafter in Berlin ein und protestierte massiv gegen das brutale Vorgehen in den Hochburgen der Proteste wie Homs. Außerdem engagiert sich Westerwelle durch Telefonate unter seinen Amtskollegen intensiv im sogenannten Freundeskreis eines demokratischen Syriens und wirbt dort um Einigkeit.

Kurz nach der Festnahme der beiden mutmaßlichen Spione ließ Westerwelle den Gesandten aus Damaskus erneut einbestellen. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es, dem Botschafter sei der Ernst der Lage durch die beiden Festnahmen klargemacht worden. Westerwelle selber sagte kurz darauf, ein "etwaiges Vorgehen gegen syrische Oppositionelle" durch den syrischen Geheimdienst auf deutschem Boden könne auf keinen Fall hingenommen werden. Dass der Minister bei einem solchen Vorgang selber Stellung nimmt, ist selten und belegt, dass der Vorfall in seinem Haus sehr ernst genommen wird.

Hintergrund für die scharfe Reaktion ist offenbar die Identität eines der Festgenommenen. In Sicherheitskreisen wurde eine Meldung der Zeitschrift "Zenith" bestätigt, dass es sich bei Akram O. um einen syrischen Botschaftsmitarbeiter handelt, der bisher in Berlin mit der Auswertung deutscher Medienberichterstattung und der Bearbeitung von Medienvisa befasst war.

Offenbar war der Mann, der seit Jahren bei der Botschaft arbeitet, nicht offiziell als Diplomat akkreditiert, hieß es, denn dann hätten ihn die Fahnder wegen der Immunität solcher Gesandter nicht festnehmen können. Bei der Botschaft war niemand für eine Stellungnahme zu erreichen, das Handy des Mitarbeiters war abgeschaltet.

Die Details machen den Fall brisant. Zwar ist es in der Diplomatie durchaus normal, dass Geheimdienstmitarbeiter bei den Botschaften akkreditiert sind. Gezielte Operationen wie die Ausforschung von Oppositionellen hingegen wären ein offener Affront gegen die Bundesrepublik. Bisher war der betroffene Mitarbeiter der Botschaft bei seinen zahlreichen Gesprächen mit deutschen Journalisten vor allem durch sein erkennbares Interesse aufgefallen, Details über deren Informationsbeschaffung in Syrien und über mögliche illegale Einreisen von ausländischen Reportern in Syrien zu erfahren.

Dass Damaskus alles versucht, um auch im Ausland an Informationen über die Opposition zu kommen, ist für die Geheimdienste keine Überraschung. "Da ein Großteil der Regimegegner im Ausland sitzt, ist dieses Vorgehen nachvollziehbar", sagte ein Experte der Behörden. In einem Memo des Verfassungsschutzes aus dem Sommer 2011 liest sich das noch etwas konkreter: "In Anbetracht der politischen Situation in Syrien ist mit verstärkten Aktivitäten des dortigen Nachrichtendienstes zu rechnen." Demnach würden syrische Nachrichten- und Sicherheitsdienste oppositionelle Gruppierungen und Einzelpersonen auch in Deutschland überwachen.


UPDATE: 8. Februar 2012


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7. Februar 2012 Dienstag 3:04 PM GMT+1 


Stunde der grünen Männchen


RUBRIK: PROBEBETRIEB AM FLUGHAFEN BERLIN BRANDENBURG


LÄNGE: 707 Wörter



HIGHLIGHT: Das Kofferchaos bei der Terminal-Eröffnung am Flughafen Heathrow ist legendär, und genau das will der neue Hauptstadt-Airport am 3. Juni vermeiden. Bis dahin sollen insgesamt 10.000 Komparsen den Härtetest machen - und Personal und Technik mit so mancher Gemeinheit auf die Probe stellen.; http://www.spiegel.de/reise/deutschland/0,1518,813857,00.html


Schönefeld - Die ersten Kunden des Hauptstadtflughafens kommen mit Helm. Schließlich sieht hier alles noch nach Baustelle aus. Dieter Koch schiebt seinen Gepäckwagen vorbei an Monteuren und Gerüsten. Der Berliner ist einer der Freiwilligen, die den Flughafen am Dienstag erstmals testen. Ganz zufrieden ist der Biesdorfer nicht, die Gepäckaufgabe dauert ihm zu lange. "Wenn das ernst gewesen wäre, hätte ich meinen Flieger verpasst."

War es aber nicht. Bis zur Eröffnung am 3. Juni haben die Betreiber noch Zeit, an Berlins neuem Tor zur Welt zu feilen. 10.000 Komparsen sollen bis dahin die Schwachstellen aufdecken. "Heute ist für uns ein ganz, ganz wichtiger Tag. Heute kommt der Kunde hinzu", sagte Flughafenchef Rainer Schwarz und bat die Tester, genau hinzusehen: "Bitte berichten Sie uns am Ende des Tages, was alles schiefgegangen ist." 

Die Erwartungen an den Neubau vor der Stadtgrenze in Schönefeld sind groß. 40.000 Arbeitsplätze versprechen die Länder Berlin und Brandenburg. Auch die Lufthansa legt sich ins Zeug und will am drittgrößten deutschen Flughafen den Billigfliegern den Kampf ansagen. Der boomende Berlin-Tourismus verspricht gute Geschäfte - da würde sich ein Fehlstart schlecht machen. Mit Schulungen wollen die Betreiber etwa Blamagen wie die Kofferpanne von London-Heathrow vermeiden. Als dort 2008 das neue Terminal öffnete, versagte die Gepäckanlage und stürzte den Airport ins Chaos.

Enttäuschung am Gate

Am Flughafen Berlin Brandenburg Willy Brandt (BER) läuft am Dienstag zunächst alles reibungslos, wie Probebetriebsmanager Christoph Aumüller sagt. "Es war beruhigend zu sehen, wie gelassen die Komparsen durch die Abläufe gekommen sind", sagte Manfred Körtgen, technischer Geschäftsführer des BER, "die Prozesse scheinen zu funktionieren." Die 260 Testpersonen fallen kaum auf zwischen den 5000 Bauarbeitern, die alles klar machen für den geplanten Umzug von den bisherigen Flughäfen Tegel und Schönefeld, die am 2. Juni geschlossen werden.

Bohrmaschinen dröhnen, Sägen kreischen, Megafone ersetzen Lautsprecher-Durchsagen. Vorbei an rot-weißen Absperrbändern geht es zur Handgepäck-Kontrolle. "Ich habe alles gut gefunden", sagt die Köpenickerin Anni Klichowicz. Wie mehr als 20.000 Berliner und Brandenburger hat sie sich freiwillig als Testerin gemeldet. Im Sommer will sie erstmals vom Großflughafen abheben, nach Salzburg.

Heute steht München auf Klichowiczs Bordkarte - doch der Gang durchs Terminal endet am Gate im Erdgeschoss mit einer "kleinen Enttäuschung", wie Flughafenchef Rainer Schwarz vorab angekündigt hat. Fliegen darf man noch nicht, und auch die versprochene Busfahrt über das verschneite Vorfeld fällt aus - wegen der Kälte, heißt es.

Für die Testpioniere ist der Tag dennoch ein Erlebnis. "Ich war neugierig, und besser kann man den neuen Flughafen nicht kennenlernen", sagt Dieter Koch. Sein Blick schweift vom 700 Meter langen Hauptflügel aufs Rollfeld des 2,5-Milliarden-Euro-Baus. "Die Hauptstadt kann nicht kleckern", meint er. "Sie muss klotzen."

Rolf Mauersberger ist nicht so begeistert. Über sein Haus in Berlin-Bohnsdorf werden die Flugzeuge hinwegdonnern. "Irgendwo müssen sie ja lang", sagt er schulterzuckend. Er hat sich einen kleinen Test für die Lufthansa-Beschäftigte ausgedacht, die im Parka hinter dem Check-in-Schalter aus Spanplatten sitzt. Mauersberger will am Gang sitzen, die Frau muss stornieren, braucht Hilfe. Es dauert.

Taschenmesser und Saftflasche

Probebetriebsmanager Aumüller hat am ersten von 30 Testtagen schon Schwachstellen entdeckt. "80 Prozent der Komparsen haben gesagt, dass hinter den Sicherheitskontrollen kein Platz zum Anziehen ist." Und fast niemand habe bei der Passkontrolle die Beamten hinter der Glasscheibe verstanden. "Wir müssen das nun auswerten", kündigt Aumüller an, der auch für den Münchner Flughafen arbeitet und schon 2010 das neue Terminal des Airports im indischen Dehli mit bezogen hat.

Kleine Fehler sind beim Test gewollt, etwa verlorene Bordkarten. Einem Fluggast fischen die Sicherheitsbeamten ein Taschenmesser aus der Jacke. Dass sie die Viertelliter-Saftflasche einer Frau übersehen, lässt Bundespolizei-Sprecher Olaf Wiese ernst werden. "Seien Sie sicher, dass sich der Fehler am 3. Juni nicht wiederholt."

Burkhard Fraune, dpa/AFP


UPDATE: 7. Februar 2012


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6. Februar 2012 Montag 2:20 PM GMT+1 


Wer hat Angst vor Alice Schwarzer?


AUTOR: Jan Fleischhauer


RUBRIK: S.P.O.N. - DER SCHWARZE KANAL


LÄNGE: 789 Wörter



HIGHLIGHT: Die Regierung von Nordrhein-Westfalen streitet mit Alice Schwarzer um 210.000 Euro an Fördergeldern. Die grüne Emanzipationsministerin Steffens sagt, sie müsse sparen. In Wahrheit geht es darum, Rache zu nehmen.; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,813606,00.html


Was die Gleichstellung der Geschlechter angeht, liegt Nordrhein-Westfalen seit dem rot-grünen Wahlsieg 2010 weit vorn. Um eine "geschlechtersensible Erziehung" zu gewährleisten, werden alle Unterrichtsmaterialien auf "Ausgewogenheit und Rollenmuster bei der Darstellung von Frauen und Männern" überprüft, ganz so wie es die Grünen in ihrem Wahlprogramm versprochen hatten.

Im Verwaltungsalltag gelten die Regeln des "Gender budgeting", also die strenge Quotierung bei allen öffentlichen Ausgaben, damit sich niemand zurückgesetzt fühlt. Selbstverständlich ist die Regierung auch bemüht, Gesetze und Vorschriften des Landes in "geschlechtergerechter Sprache" umzusetzen, wobei das vom Emanzipationsministerium angebotene "Gendering Add-In" für Microsoft Word eine fabelhafte Hilfe bietet. 

Was liegt bei so viel emanzipatorischem Eifer näher als die dankbare Referenz an eine der Ikonen der Gleichberechtigung? Seit Alice Schwarzer in Köln Quartier bezog und von dort ihre "Emma" in die Republik zu verschicken begann, dürfen einmal nicht nur Frankfurt oder Berlin als Ausgangspunkt einer Befreiungsbewegung gelten. Grund genug, stolz zu sein auf dieses Stück revolutionärer Geschichte, sollte man meinen.

Doch das Gegenteil ist der Fall, wie man vergangene Woche den Zeitungen entnehmen konnte. Statt die deutsche Mutter des Feminismus für ihren Einsatz zu würdigen, hat die neue Landesregierung, angeführt von der grünen Emanzipationsministerin Barbara Steffens, die staatlichen Zuschüsse für Schwarzers feministisches Archiv rückwirkend um zwei Drittel gekürzt. Statt 210.000 Euro, wie mit der CDU-geführten Vorgängerregierung vereinbart, gibt es seit Anfang des Jahres nur noch 70.000 Euro, und auch diese Finanzierung steht auf wackligen Füßen, wenn man die Einlassungen der neuen Amtsinhaber in Düsseldorf richtig versteht.

Was also hat Alice Schwarzer sich zu Schulden kommen lassen?

Rot-Grün verweist auf Haushaltsnöte. Trotz aller "Wertschätzung für die großen Verdienste von Alice Schwarzer" müsse die Landesregierung sparen und dabei auch "die Verhältnismäßigkeit der Fördermittel zu anderen Frauenprojekten wahren", heißt es aus der Staatskanzlei. Das ist grober Unfug, der leicht als solcher zu durchschauen ist. Der Haushaltstitel, in den die Förderung von Schwarzers Archiv fällt, ist gerade um neun Millionen Euro erhöht worden. Das Geld geht jetzt nur an andere Träger, das Frauenkulturbüro in Krefeld zum Beispiel, das dafür einen "poetischen Erfahrungsaustausch" von Frauen für Frauen oder ein Debattenforum "zu Themen der Geschlechterrollen beziehungsweise des Feminismus in der Kunst Osteuropas" veranstaltet.

Was also hat Alice Schwarzer sich zu Schulden kommen lassen? Sie hat sich nie das Maul verbogen, auch wenn es um den Teil des politischen Spektrums ging, der sich selbst als progressiv empfand. Das ist das Vergehen, für das sie nun zur Rechenschaft gezogen wird. Schwarzer hat es den Grünen nie leicht gemacht, das ist wahr. Sie hat sich früh über die "Blut-und-Boden-Fraktion" der Ökopartei lustig gemacht und deren "Strickmütter", die nach ihrer Ansicht mit dem, wofür "Emma" steht, "nämlich totale Chancengleichheit, gleiche Rechte, gleiche Pflichten, noch nie etwas anfangen konnten". Sie hat die "Anything-goes-Moral" der Linken attackiert und den "Kulturrelativismus", der die systematische Entrechtung von Frauen in der islamischen Welt als Teil einer religiösen Tradition wegzuerklären versuchte.

Vor allem aber hat sie sich nie mit dem kollektivistischen Ethos abgefunden, das auf jede Ausnahmestellung mit Abwehr reagiert. "Ich weiß noch, wie ich das erste Mal im Frauenzentrum saß", berichtete sie kürzlich in einem spiegel-Gespräch: "Da hob eine Frau zwei Hände. Ich fragte, warum hebt die denn zwei Hände? Da hieß es: Meldung zur Geschäftsordnung. Da dachte ich, nein, Mädels, das mache ich nicht mit, ich lasse mir nicht das Denken verbieten."

Spätestens seit Schwarzer ihre Sympathien für Angela Merkel erkennen ließ, sind die Grünen durch mit der Frauenrechtlerin aus Köln. Seitdem hat sie aufgehört, eine "kritische Stimme" zu sein beziehungsweise "Sprachrohr des Feminismus", wie die Landesvorsitzende der Grünen, Daniela Schneckenburger, nach dem Wahlsieg von Schwarz-Gelb 2009 schlankweg erklärte.

Den modernen Feminismus, wie ihn die Nachfolgegeneration verkörpert, treibt keine politische Idee mehr. Hinter dem Versprechen der Emanzipation steht nur noch die Vorteilsgewinnung, deshalb auch die Verkürzung jeder Diskussion auf die Quote. Gleichstellungspolitik funktioniert hier folgerichtig als Patronage der eigenen Anhängerschaft. Wer dazu nicht zählt, soll sich nicht beschweren: Was eine Fehlinvestition ist, weiß man auch bei Rot-Grün, so viel von Haushaltsdingen versteht man dann doch.


UPDATE: 6. Februar 2012


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6. Februar 2012 Montag 1:45 PM GMT+1 


Merkel und Sarkozy fordern Sonderkonto für Athen


RUBRIK: SCHULDENKRISE


LÄNGE: 632 Wörter



HIGHLIGHT: Deutschland und Frankreich verlieren die Geduld mit dem hoch verschuldeten Griechenland: Angela Merkel und Nicolas Sarkozy verlangen, dass die griechische Regierung endlich die versprochenen Reformen umsetzt. Die Staatseinnahmen sollen künftig auf ein Sonderkonto fließen.; http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,813552,00.html


Paris - Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und Kanzlerin Angela Merkel haben Griechenland gedrängt, endlich Entscheidungen zu treffen. "Unsere griechischen Freunde müssen zu ihren Verpflichtungen stehen", sagte Sarkozy bei einer gemeinsamen Pressekonferenz am Montagmittag in Paris. Die Griechen müssten jetzt die Forderungen erfüllen, "sie haben keine Wahl", so Sarkozy. Das Problem der massiven Verschuldung Griechenlands müsse "ein für alle Mal" gelöst werden. 

Beide Politiker forderten ein Sonderkonto, auf das künftig alle griechischen Staatseinnahmen eingezahlt werden. So sollen künftig die Schulden des Landes abgebaut werden, sagte Sarkozy. Merkel sprach auch von einem Extra-Konto für die Zinszahlungen im Rahmen der Schuldentilgung.

Die Kanzlerin ergänzte: "Es kann keine Einigung geben, wenn die Troika-Vorschläge nicht umgesetzt werden." Sie betonte, es werde kein neues Geld für Griechenland geben, so lange die Forderungen der internationalen Kontrolleure nicht erfüllt seien: "Die Zeit drängt." Es stehe für die gesamte Euro-Gruppe viel auf dem Spiel. Sie könne nicht erkennen, wo der Nutzen von weiteren Verhandlungen liege. Es bringe nichts, sie ständig zu verlängern. Die zugesagten Reformen müsse Athen bedingungslos umsetzen. Athen benötigt im März neue Hilfskredite.

Ein Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone sei aber kein Thema, betonten Merkel und Sarkozy. Die Gemeinschaftswährung sei jedoch nicht nur ein politisches, sondern auch ein finanzielles Projekt, so die Kanzlerin.

"Der Ball ist im Feld der griechischen Behörden"

Mit der Troika aus EU, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank verhandelt die Regierung in Athen seit Monaten über ein zweites Hilfspaket über mindestens 130 Milliarden Euro. Dafür soll Griechenland weitere Sparmaßnahmen umsetzen. Diese stoßen aber in der Übergangsregierung vor den geplanten Neuwahlen auf Widerstand, seit Wochen schleppen sich die Verhandlungen hin.

In Brüssel erhöhte die EU-Kommission den Druck. "Die Fristen sind bereits überschritten", sagte der Sprecher von Währungskommissar Olli Rehn. Brüssel sieht in den Verhandlungen vor allem die Regierung von Premier Loukas Papademos gefordert: "Der Ball ist im Feld der griechischen Behörden." Athen müsse die notwendigen Entscheidungen treffen, um sich zusätzliche Milliardenhilfen von seinen Gläubigern zu sichern.

Wahlkampfhilfe für Sarkozy

Mit rund halbstündiger Verspätung war Merkel am Montag zum 14. deutsch-französischen Ministerrat in Paris eingetroffen. Schwerpunkt der Gespräche mit Präsident Sarkozy und französischen Regierungsvertretern sind der drohende Staatsbankrott Griechenlands, die Lage in Syrien und neue Gemeinschaftsprojekte auf dem Gebiet der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Deutschland und Frankreich wollen die Unternehmensbesteuerung vereinheitlichen.

Die Treffen der deutsch-französischen Minister gibt es bereits seit 2003. Damals entschieden Deutschland und Frankreich, die seit dem bilateralen Élyséevertrag von 1963 halbjährlich stattfindenden Regierungskonsultationen in Form von gemeinsamen Ministerräten abzuhalten.

Sarkozy befindet sich derzeit im Wahlkampf. Die Kanzlerin hatte angekündigt, dass sie den angeschlagenen Präsidenten mit mehreren Auftritten im Wahlkampf unterstützen werde. Sarkozy liegt in den Umfragen hinter dem sozialistischen Herausforderer François Holland. Merkel verteidigte ihre Unterstützung: In Europa sei es ganz üblich, dass sich befreundete Parteien unterstützten, sagte die CDU-Vorsitzende. Sie unterstütze Sarkozy, weil er der gleichen Parteienfamilie angehöre, und sie unterstütze ihn, "egal was er tut".

Mit Spannung wird das erste gemeinsame Fernsehinterview von Merkel und Sarkozy erwartet, das am Abend in beiden Ländern ausgestrahlt werden soll - um 19.20 Uhr im ZDF.

heb/dapd/dpa/Reuters/AFP


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6. Februar 2012 Montag 6:28 AM GMT+1 


Euro-Retter nehmen Griechen in die Mangel


AUTOR: Philipp Wittrock


RUBRIK: SCHULDENDRAMA


LÄNGE: 1030 Wörter



HIGHLIGHT: Die Geduld der EU-Partner mit Griechenland geht zu Ende. Deutschland erhöht massiv den Druck, Euro-Gruppen-Chef Juncker schließt eine Pleite nicht mehr aus. Beide Seiten pokern um neue Milliardenhilfen, auch private Geldgeber müssen einspringen.; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,813451,00.html


Berlin - Mitunter ist die Europäische Union durchaus kreativ. Der darbenden griechischen Wirtschaft mit dem deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) zu helfen - darauf muss man erst mal kommen. Tatsächlich haben findige Beamte in Brüssel nach spiegel-Informationen überlegt, dass man die deutsche Förderung für Solar- und Windstrom auch griechischen Unternehmen zukommen lassen könnte, wenn diese Strom nach Europa liefern. Schließlich scheint über Griechenland an 300 Tagen im Jahr die Sonne. Der deutsche Verbraucher könnte so ein bisschen Wiederaufbauhilfe für das südeuropäische Land leisten.

Ganz abgesehen davon, dass nicht klar ist, wie der griechische Sonnenstrom nach Westeuropa kommen soll - aus der schönen Idee wird wohl nichts. Die politische Führung hierzulande will davon nichts wissen. "Die Bundesregierung lehnt eine Ausweitung der EEG-Förderung auf erneuerbaren Strom, der im Ausland produziert wird, ab", hieß es am Sonntag aus dem Wirtschaftsministerium. Das klang ziemlich kategorisch. Und auch das Umweltressort ließ wenig später wissen: Hilfen beim Ausbau des Energiesektors ja, Subventionen nein. 

Statt auf Phantasie setzt Berlin bei der Griechenland-Rettung lieber auf harte Fakten. Die Geduld der Geldgeber schwindet, nicht nur die Bundesregierung will endlich Ergebnisse bei den versprochenen Reformen der griechischen Regierung sehen. Die internationalen Kreditgeber haben Griechenland laut der Nachrichtenagentur Reuters ein Ultimatum gestellt. Bis Montagmittag müssten die Koalitionsparteien mitteilen, ob sie die Sparauflagen im Gegenzug für weitere Finanzhilfen akzeptierten, sagte ein Sprecher der sozialistischen Pasok-Partei am Sonntag. Dann wäre es zeitlich noch möglich, dass die Euro-Arbeitsgruppe in Brüssel über die Absichtserklärung beraten könne.

Das ganze Wochenende wurde in Athen über neue Milliardenhilfen und einen Schuldenschnitt verhandelt. Dramatische Verhandlungen, an deren Ende für Griechenland die Antwort auf eine einfache Frage stehen könnte: Pleite oder Rettung?

Deutschland verlangt Ernsthaftigkeit

Die Retter jedenfalls machen aus ihrer Ernüchterung über die bisherigen Bemühungen Athens keinen Hehl mehr. Man habe aus Griechenland häufig Erklärungen des guten Willens gehört, sagte Unionsfraktionsgeschäftsführer Peter Altmaier (CDU) dem "Tagesspiegel am Sonntag". Nach wie vor seien aber nur wenige Reformen unter Dach und Fach. Mit Blick auf die notwendige Unterstützung der Koalition für das anstehende, zweite Rettungspaket sagte der Vertraute von Kanzlerin Angela Merkel: "Das zweite Hilfspaket wird es nur dann geben können, wenn von griechischer Seite der Nachweis der absoluten Ernsthaftigkeit geführt wird."

Zweifel gibt es nicht nur in Deutschland. Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker schloss eine Pleite Griechenlands nicht mehr aus. Sollte Athen die notwendigen Reformen nicht umsetzen, könne es nicht erwarten, "dass Solidaritätsleistungen von den anderen erbracht werden", warnte Juncker im spiegel. Wenn alles schieflaufe in Griechenland, sei das Land im März zahlungsunfähig. Mitte März braucht das Land rund 15 Milliarden Euro, um alte Schulden abzulösen. Die Nachrichtenagentur Reuters zitierte nach einer Konferenzschaltung der Euro-Finanzminister einen ranghohen Teilnehmer mit den Worten: "Es gab eine klare Botschaft an die Griechen, die in der Telefonkonferenz von allen verstanden worden ist: Genug ist genug."

Den Griechen scheint der Ernst der Lage durchaus bewusst. Das Schicksal seines Landes stünde "auf Messers Schneide", ließ Finanzminister Evangelos Venizelos wissen. Im Blick hat Venizelos dabei sowohl die Verhandlungen mit den privaten Gläubigern als auch mit der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF).

Papademos braucht innenpolitische Unterstützung

Die Troika macht das neue, für Athen überlebenswichtige 130-Milliarden-Hilfspaket von weiteren Sparmaßnahmen abhängig. Dabei geht es vor allem um Lohnkürzungen für Staatsangestellte, auch der Mindestlohn von derzeit 750 Euro soll niedriger angesetzt werden. Insgesamt sollen die Arbeitskosten um 25 Prozent reduziert werden.

Dagegen allerdings gibt es große Vorbehalte bei Gewerkschaften und Arbeitegebern sowie in allen Parteien, die die griechische Regierung stützen - Sozialisten, Konservative und die kleine rechtsgerichtete Partei "Laos". Die Sorge: Die Rezession könnte sich weiter verstärken, die Arbeitslosigkeit noch höher steigen. Der parteilose Ministerpräsident Loukas Papademos wollte am Sonntagnachmittag bei den Spitzen der drei Koalitionsparteien um Unterstützung werben. Die europäischen Schuldeninspektoren fordern von diesen eine Garantieerklärung, dass sie die Reformen mittragen, und zwar über die für April geplante Parlamentswahl hinaus.

Gleichzeitig sollten am Sonntag auch die Gespräche mit dem Internationalen Bankenverband (IIF) über den angepeilten Schuldenschnitt in die entscheidende Phase gehen - nach Meinung von Finanzminister Venizelos inzwischen der "einfachere Teil" der Verhandlungen. Banken, Hedgefonds und Versicherungen sollen auf etwa 70 Prozent ihrer Forderungen verzichten, um den Schuldenstand Griechenlands um 100 Milliarden Euro zu reduzieren. IIF-Chef Josef Ackermann wollte am Sonntag selbst nach Athen reisen. Ackermann hatte zuvor eindringlich davor gewarnt, Griechenland in die Insolvenz zu schicken. Wenn das Land pleitegehe, werde "eine neue Büchse der Pandora" geöffnet, so der scheidende Deutsche-Bank-Chef.

Ob Europa wirklich bereit wäre, das Risiko der schwer kalkulierbaren Folgen einer Insolvenz Griechenlands einzugehen, ist bei aller Dramatik ungewiss. Als Drohkulisse dient der schärfere Ton allemal. Die Pleiteangst, so die Hoffnung der Euro-Retter, soll den Schuldensündern Beine machen. Allein die Möglichkeit, dass das passieren könnte, erklärte Euro-Gruppen-Chef Juncker im spiegel, sollte den Griechen, "dort Muskeln verleihen, wo sie im Augenblick noch ein paar Lähmungserscheinungen haben".

Bis Sonntagnacht gab es allerdings keine Anzeichen, dass die Drohungen Wirkung gezeigt und sich Retter und zu Rettende geeinigt hätten. Nun sollen die Gespräche am Montag fortgeführt werden.

Mit Material von Reuters und dapd


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6. Februar 2012


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RUBRIK: SPIEGEL ONLINE; S. 145 Ausg. 6


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THEMA DER WOCHE

Bärenfieber

Von der Französischen Revolution bis zum Arabischen Frühling, vom Bosnien-Krieg bis zur Occupy-Bewegung: Das 62. Berliner Filmfest vereint politisches Weltkino mit großen Hollywood-Stars. SPIEGEL ONLINE berichtet live von der Berlinale. 

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Wer die größten Chancen auf die Bären hat

WIRTSCHAFT | Grüne Etiketten

Alles Bio, oder was? In der Flut der Öko-, Bio- und Fair-Trade-Produkte verlieren selbst ausgefuchste Verbraucher die Übersicht. SPIEGEL ONLINE erklärt, welche Siegel halten, was sie versprechen.

PANORAMA | Kampf der alten Dame

Irmgard Greiner vertraute der Bank, die eine Anlage mit langer Laufzeit empfohlen hatte. Erst später merkte die Frau: Sie bekäme im Alter von 108 ihr Geld zurück.

SCHULSPIEGEL | Rucksack-Check

Hamburger Schüler öffnen ihre Taschen und zeigen, was für sie im Schulalltag überlebensnotwendig ist: Handy, Collegeblock - und die Schulordnung, aus der für die Strafarbeit abgeschrieben werden muss. Eine Audio-Slideshow.

Er war nur 13 Zentimeter groß und doch der mächtigste Mann des Universums: 1982 eroberte die Action-Figur He-Man die Kinderzimmer. Der Muskelprotz mit dem Pagenschnitt und seine brutale Barbaren-Gang trieben Kinder in die Spielzeugläden und Eltern in den Wahnsinn. Doch plötzlich waren die Master of the Universe wieder verschwunden.


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6. Februar 2012


Klappe halten


AUTOR: Theile, Merlind


RUBRIK: DEUTSCHLAND; LIBERALE; S. 40 Ausg. 6


LÄNGE: 636 Wörter



HIGHLIGHT: Die Krise der FDP erreicht die Basis: Viele Funktionäre wenden sich gegen die Partei. Sie wollen nicht länger für die Fehler der Führungsriege geradestehen.


Es sollte ein heiteres Fest werden, Blumen zum Jubiläum, Sekt, ein schönes Foto. Dirk Niebel war extra angereist zum Neujahrsempfang der FDP in Heidelberg, der Entwicklungshilfeminister wollte Annette Trabold ehren, Mitglied der FDP seit 30 Jahren, Stadträtin seit 1989. 

Kaum war Niebel da, wetterte Trabold los. "Wir hier an der Basis müssen die Suppe auslöffeln, die uns die Bundes-FDP einbrockt. Was wir hier vom größten Teil der FDP-Führung geboten bekommen, das ist unsäglich!" Wenn sich die Parteispitze nicht bald zusammenreiße, "dann gibt es eine Suppe, die ich nicht essen werde". Erstmals in ihrem Leben denkt Trabold ernsthaft daran, ihr politisches Engagement an den Nagel zu hängen.

Die Krise der FDP ist an der Basis angekommen. Inzwischen laufen der FDP nicht bloß Wähler und Mitglieder weg, sondern auch Funktionsträger: Kreisvorsitzende, Stadtverordnete. Seit Monaten vergeht kaum eine Woche, in der nicht irgendwo in Deutschland ein liberaler Kommunalpolitiker hinschmeißt.

Wer mit den Aussteigern spricht, hört die unterschiedlichsten Geschichten, aber der rote Faden ist die Enttäuschung. "Die FDP hat uns im Stich gelassen", sagt Albert Schweiger, Immobilienkaufmann, bis Januar Kreisvorsitzender im schwäbischen Memmingen.

Als Schweiger vor fünf Jahren in die FDP eintrat, dachte er, die Partei tue etwas für den Mittelstand. Dann wurden im Ort Millionenaufträge ohne Ausschreibung vergeben. Schweiger und andere in seinem Kreisverband fanden das wettbewerbsverzerrend. War nicht die FDP die Partei der Ordnungspolitik? Sie wandten sich an den Landesvorsitzenden und sogar an die FDP-Abgeordneten in Brüssel. Alle gaben ihnen Recht und versprachen, sich zu kümmern. Aber geschehen, sagt Schweiger, sei nichts: "Die Leute an der Parteispitze kämpfen alle nicht um die Sache."

Mehr als die Hälfte der FDP-Mitglieder trat wie Schweiger in der Oppositionszeit ein. Sie glaubten, an der Regierung würden die Verheißungen des Parteichefs Guido Westerwelle wahr. Als dann ein Wahlversprechen nach dem anderen verpuffte, gingen die Neumitglieder als Erste. Aber inzwischen geht die Krise der FDP tiefer.

25 Jahre war Brigitte Pöpel Mitglied der FDP, sie saß im Kreisvorstand in Wiesbaden und im Rathaus. Doch nach dem Sieg bei der Bundestagswahl wurde ihr die Partei immer fremder. Der neue Vorsitzende Philipp Rösler überzeugt sie nicht, in ihren Augen wirkt er völlig überfordert.

Zum Bruch zwischen ihr und der FDP kam es nach dem Mitgliederentscheid zum Euro-Rettungsschirm. Pöpel unterstützte den Antrag des Euro-Rebellen Frank Schäffler. "Kritiker wie ich wurden massiv von der FDP-Führung attackiert", sagt sie. Konstruktive Kritik sei in der Partei nicht erwünscht. "Die Haltung ist: Die Leute, die an der Basis die Arbeit machen, sollen die Klappe halten. Das hat mir irgendwann gereicht." Im Januar legte sie alle Parteiämter nieder.

Die große Distanz zwischen Bundes- und Lokalebene war immer ein Manko der deutschen Politik, schon durch die alte Bundesrepublik geisterte der Ausdruck "Raumschiff Bonn". In der FDP hat die Abkopplung der Parteispitze von der Basis seit dem Regierungsantritt jedoch gefährliche Formen angenommen. Oben werden nach elf Oppositionsjahren plötzlich alle Kräfte vom Regieren aufgezehrt. Unten an der Basis weiß kaum noch ein Funktionär, wie er die Politik der Parteispitze vor seinen Leuten vertreten soll.

Jene Funktionäre, die noch bei der FDP ausharren, wählen zum Teil drastische Mittel, um ihrer Wut Luft zu machen.Der Kreisverband Dingolfing-Landau hat beschlossen, keine Beiträge mehr an die Bundespartei abzuführen. "Berliner Dummheit darf nicht auch noch finanziell unterstützt werden", sagt der Kreisvorsitzende Franz Egerer. Es sei angebracht, "dass sich die Schuldigen in der Parteizentrale zu einem historischen Kniefall durchringen und die Basis akzeptieren".


UPDATE: 6. Februar 2012


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GRAFIK: Vorsitzender Rösler: Völlig überfordert


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6. Februar 2012


Pakt der Verzweiflung


AUTOR: Müller, Peter; Pfister, René; Rohr, Mathieu von; Schult, Christoph


RUBRIK: DEUTSCHLAND; EUROPA; S. 22 Ausg. 6


LÄNGE: 2022 Wörter



HIGHLIGHT: Kanzlerin Angela Merkel will sich im französischen Präsidentschaftswahlkampf offen an die Seite von Nicolas Sarkozy stellen. Das Bündnis ist ein Tabubruch in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen.


Ein bisschen sah es aus wie eine Hochzeit, als Angela Merkel und Nicolas Sarkozy am vergangenen Montag den Sitzungssaal des Brüsseler Ratsgebäudes betraten. Sie nickten und verteilten Küsschen, die anderen Staats- und Regierungschefs standen Spalier. Natürlich, es ging nicht um die Vermählung der Kanzlerin und des französischen Präsidenten, aber den Segen für den Fiskalpakt, den sie gemeinsam für die EU erfunden hatten, wollten sich die beiden schon abholen.

Als dies geschehen war, konnte man eine zufriedene Kanzlerin erleben, eine Frau, die aus ihrer Sympathie für Sarkozy keinen Hehl macht. "Meine parteipolitischen Gefühle sind ja bekannt", sagte Merkel nach dem Gipfel. Und dann folgte ein Satz, der bisher unvorstellbar war für einen deutschen Kanzler: "Nicolas Sarkozy hat mich im Wahlkampf unterstützt. Genauso gebe ich jetzt das zurück, was er mir hat zuteilwerden lassen."

Die nüchterne Kanzlerin und der quirlige Staatspräsident haben einen Pakt geschlossen, wie es ihn noch nie gab in der langen Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen. Merkel hat sich entschlossen, ganz unverhohlen Wahlkampf zu machen für den Kollegen in Paris. Für ihn wird sie jene Zurückhaltung fahrenlassen, die Kanzler in den letzten Jahrzehnten für geboten hielten. Wenn Sarkozy die Werbetour für seine Wiederwahl startet, dann wird sie mit ihm auf der Bühne stehen, so ist es geplant. 

Sarkozy wiederum wird in seiner Kampagne den Nachbarn jenseits des Rheins zum leuchtenden Vorbild erheben. Die deutsche Schuldenbremse, die deutschen Sozialreformen, die deutsche Produktivität - an alldem sollen sich die Franzosenein Beispiel nehmen. Als der Präsident vor ein paar Tagen ein einstündiges Fernsehinterview gab, gebrauchte er 15-mal das Wort "Allemagne". Selbst Parteifreunde fanden, Sarkozys Faible für Deutschland wandle sich langsam zur Obsession.

Man kann die Bande zwischen Merkel und Sarkozy als eine neue Stufe der Freundschaft zwischen Berlin und Paris sehen. Was ist zu sagen gegen zwei Staatslenker, die zu einem virtuellen Herrscherpaar verschmolzen sind? Konrad Adenauer und Charles de Gaulle schlossen den Elysée-Vertrag, Helmut Kohl und François Mitterrand reichten sich die Hände über den Gräben von Verdun. Und "Merkozy" setzen jetzt das in die Tat um, wovon Freunde eines geeinten Kontinents schon immer träumten: europäische Innenpolitik, ein Denken ohne Schlagbäume.

Das ist die wohlmeinende Sicht der Dinge, und sie wird gern verbreitet in Berlin und Paris. "Es spricht für das Zusammenwachsen Europas, wenn Kanzlerin Merkel mit Präsident Sarkozy Wahlkampf macht", sagt der CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz.

In Wahrheit ist es eher Verzweiflung, die Merkel und Sarkozy umtreibt. Der Präsident liegt in Umfragen offenbar hoffnungslos hinter seinem sozialistischen Herausforderer François Hollande zurück. Das deutsche Jobwunder in Frankreich zu wiederholen - mit diesem Versprechen will er Wähler locken.

Merkel wiederum graut vor einem Präsidenten Hollande, der auf sie wie eine französische Ausgabe Oskar Lafontaines wirkt. Hollande ist für Euro-Bonds und gegen eine verfassungsrechtlich verankerte Schuldenbremse; geht es nach ihm, landet Merkels Fiskalpakt, den sie gerade mit viel Mühe durch die Brüsseler Instanzen geboxt hat, im Papierkorb. Scheitert Sarkozy, scheitert Merkels Europapolitik, so das Kalkül im Kanzleramt.

Deshalb läuft nun schon seit Monaten eine Art Geheimdiplomatie zwischen dem Berliner Adenauer-Haus und der Pariser UMP-Zentrale. Die Schwesterpartei in Frankreich wird ähnlich intensiv betreut wie ein CDU-Landesverband, der vor einer wichtigen Wahl steht. Entscheidendes Bindeglied zwischen beiden Seiten ist der französische Landwirtschaftsminister Bruno Le Maire, Deutschland-Kenner in der französischen Regierung.

Zweimal reiste er in den vergangenen Monaten nach Berlin, um sich mit CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe zu beraten, einmal bekam er einen Termin bei Peter Altmaier, einem der wichtigsten Berater der Kanzlerin. Le Maire besprach die großen Linien der Operation Wahlkampfhilfe, für die Details war dann der stellvertretende UMP-Generalsekretär Hervé Novelli zuständig.

Haarklein erklärten die Franzosen Sarkozys Wahlkampfstrategie für die Wiederwahl im Mai. Der Präsident wolle als Macher auftreten, als Gestalter der Euro-Rettung. Die Franzosen sollen ihn als einen Mann sehen, der Merkel ebenbürtig ist und der nicht das Schicksal all jener beklagenswerten Staatschefs aus dem Süden Europas teilt, die jetzt in Brüssel um Milliarden für ihre maroden Haushalte betteln müssen und dabei nicht nur Teile ihrer Souveränität verlieren, sondern auch ihre Würde.

Aber wie soll das gehen? Eben erst wurde Frankreich das AAA-Rating genommen, und das Schlimmste daran war für die Franzosen, dass Deutschland seine Topnote behalten durfte. Dazu kommen die schlechten französischen Wirtschaftsdaten, die so gar nicht zu Sarkozys Behauptung passen, Frankreich spiele in einer Liga mit Deutschland.

Wenn schon die Zahlen nicht harmonieren, dann müssen wenigstens die Bilder stimmen, da waren sich Deutsche und Franzosen schnell einig. So entstand die Idee, dass Merkel vor der Präsidentschaftswahl nach Frankreich reist, um mit Sarkozy aufzutreten. Die Kanzlerin des zuletzt boomenden Deutschland soll auch dem müden Wahlkampf Sarkozys Leben einhauchen. Das ist die Idee.

Schon an diesem Montag gibt Merkel mit Sarkozy ein gemeinsames Interview, die Zuschauer können es im ZDF und im französischen Sender France 2 sehen. Es wird im Salon Murat des Elysée-Palasts aufgezeichnet, die Kronleuchter und die vergoldeten Wandsäulen sorgen für eine erhabene Kulisse. Und das ist erst die Ouvertüre des Wahlkampfeinsatzes der Kanzlerin in Frankreich.

Konkrete Termine stehen bislang zwar noch nicht fest. Aber Sarkozys Strategen haben Merkel schon fest eingeplant. Als CDU-Generalsekretär Gröhe vor gut einer Woche nach Paris zum UMP-Wahlkampfauftakt fuhr, präsentierte ihm sein französischer Kollege Jean-François Copé eine Liste mit Vorschlägen.

Merkel freue sich auf die gemeinsamen Auftritte mit dem Präsidenten, sagte Gröhe anschließend bei seiner Rede vor den UMP-Delegierten, der Applaus war begeistert. Am folgenden Tag titelte das französische Blatt "Journal du Dimanche" süffisant: "Merkel wählt Sarkozy".

Vor ein paar Jahren wäre eine solche Schlagzeile undenkbar gewesen. Sarkozy fremdelte zu Beginn seiner Amtszeit mit dem rationalen Wesen Merkels, die Kanzlerin wiederum war irritiert von dem hypernervösen Aktionismus des französischen Präsidenten und seiner Marotte, Leute beim Reden immer anzufassen. Zueinander führte die beiden dann erst die Euro-Krise.

Nun schweißt die beiden auch der gemeinsame Gegner zusammen, der Sozialist Hollande. Der bezeichnet sich zwar als "realistischen Linken", aber sein Wahlprogramm ist so voller teurer Versprechen, dass es selbst den Sozialdemokraten in Berlin unheimlich wird. Die haben nämlich, zum Beispiel, die Rente mit 67 miteingeführt, während Hollande es schon als Zumutung empfindet, dass die Franzosen frühestens mit 62 in Rente gehen können.

Besonders heikel ist für Merkel aber Hollandes Europapolitik. Bisher konnte sie ihre Sparpläne nur deshalb in ganz Europa durchsetzen, weil sie Sarkozy an ihrer Seite wusste. Hollande hat schon klipp und klar gesagt, dass er den Fiskalpakt, das Herzstück von Merkels Europapolitik, kippen werde. Zwar verbreiten Merkels Berater, Hollande werde schon zur Vernunft kommen, sollte er erst einmal im Elysée sitzen.

Aber das könnte sich als Wunschdenken erweisen. "Es ist unglaublich, wenn man uns sagt, ein neugewählter sozialistischer Präsident dürfe an diesem Abkommen nichts ändern wollen. Dann kann man uns gleich sagen: Ihr braucht keine Wahlen durchzuführen", sagt Hollandes Wahlkampfleiter Pierre Moscovici. Er hat auch ein hübsches Beispiel einer Regierungschefin parat, die sich ganz allein gegen den Rest Europas durchsetzte, auch wenn Hollande diesem Extrem nicht folgen will. Margaret Thatcher habe einst gesagt: "I want my money back."

Natürlich weiß Hollande, wie kritisch Merkel auf ihn blickt. Der Sozialist hatte im Dezember die SPD in Deutschland besucht und gerufen: "Wir gewinnen zusammen." Das fand Merkel nicht so amüsant. Aber dass die Kanzlerin sich nun so demonstrativ auf die Seite Sarkozys stellt, ist für Hollande doch ein Schock.

Denn der Kandidat hätte ganz gern seinen Wahlkampf mit einem Termin im Berliner Kanzleramt geschmückt. Der blasse Monsieur Hollande könnte ein bisschen Glanz gut vertragen. Aber seit Wochen bleiben die Anfragen der Sozialisten unbeantwortet, Hollandes Wahlkampfleiter Moscovici sagt: "Es ist an Frau Merkel zu entscheiden, wann und ob ein solches Treffen stattfinden könnte."

Zwar hat der deutsche Botschafter in Paris den Sozialisten versichert, dass es eine Tradition gebe, den wichtigsten Gegenkandidaten des Präsidenten in Berlin zu empfangen. So erzählt es zumindest Jean-Marc Ayrault, Hollandes Berater für Deutschland-Fragen. Aber Merkels Leute suchen gerade nach einer Begründung, wie sie Hollandes Begehren ablehnen können, ohne dabei allzu viel außenpolitisches Porzellan zu zerschlagen.

Eine Entscheidung ist noch nicht gefallen, aber Merkels Wahlkampfhilfe für Sarkozy lässt schon jetzt die Sorge aufkeimen, wie es mit den deutsch-französischen Beziehungen weitergehen soll. Wie will die Kanzlerin mit einem Präsidenten arbeiten, den sie als Kandidaten so düpiert hat?

Merkels Leute geben sich keine Mühe, ihre Abneigung gegen Hollande zu verbergen. "Bei der Auseinandersetzung zwischen Sarkozy und Hollande stehen sich zwei Grundauffassungen gegenüber", sagt CDU-Generalsekretär Gröhe. "Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit oder linke Umverteilungspolitik."

In der Regierungskoalition regt sich nun Verdruss über die Parteilichkeit der Kanzlerin. "Die Bundesregierung ist nicht Partei im französischen Wahlkampf", sagt Außenminister Guido Westerwelle auf die Frage, ob er sich auch engagieren wolle. Deutlicher kann der Chefdiplomat sein Missfallen nicht zum Ausdruck bringen. Tatsächlich hat noch nie ein deutscher Regierungschef so offen in einen Wahlkampf im Ausland eingegriffen, und Merkel selbst hat ja immer viel Wert auf Neutralität gelegt, auch wenn sie jetzt sagt, sie trete in Frankreich nur als CDU-Vorsitzende auf.

Als Präsidentschaftskandidat Barack Obama im Sommer 2008 vor dem Brandenburger Tor sprechen wollte, verbannte Merkel ihn vor die Siegessäule. Man möge das für "altmodisch" halten, sagte sie damals. Aber vor dem Brandenburger Tor dürften nur gewählte Präsidenten sprechen. Wenn sie nun sagt, Sarkozy habe sie selbst im Wahlkampf unterstützt, ist das nur die halbe Wahrheit. Als Sarkozy sie im Mai 2009 in Berlin besuchte, war das eine Veranstaltung der Jungen Union und der Jugendorganisation der UMP - und damit eben kein reiner Wahlkampftermin.

Helmut Kohl machte seine Unterstützung allenfalls als subtile Geste deutlich. So besuchte er den damaligen konservativen Präsidentschaftskandidaten Edouard Balladur 1995 bei dessen Winterurlaub in Chamonix und nannte ihn "cher ami". Einmal gestattete Kohl seinem politischen Freund François Mitterrand die Verwendung des berühmten Fotos, das die beiden Hand in Hand in Verdun zeigte - aber nicht für dessen Wiederwahl, sondern für den Europawahlkampf.

Vielleicht aber sollte Hollande die Wahlkampfhilfe Merkels still genießen, denn am Ende hilft sie womöglich nicht Sarkozy, sondern ihm. Im Moment jedenfalls scheint sie eher kontraproduktiv. Viele Bürger sind genervt von ihrem Präsidenten, der ihnen ständig erklärt, was die Deutschen alles besser machen.

In der legendären französischen Satiresendung "Les Guignols de l'Info" hat eine rotgesichtige Puppe mit starkem deutschem Akzent schon einen festen Platz. Sie stellt Angela Merkel dar und wird vorgestellt als "Présidente de la République française", und ihre zackigen Ansprachen über die verluderte Disziplin der Franzosen enden mit dem Ausruf: "Arrbeiiit!"

Als kürzlich Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn bei Hollande anrief, war das Gespräch schnell bei Merkel und ihrer geplanten Kampagne in Frankreich. Er solle sich bloß nicht darüber aufregen, riet Asselborn: "Das ist das Beste, was dir passieren konnte."


UPDATE: 6. Februar 2012


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GRAFIK: Führungsduo Sarkozy, Merkel
Sozialist Hollande: Angriff auf Merkels Europapolitik


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6. Februar 2012


Wulffs Schweigen


AUTOR: Hawranek, Dietmar


RUBRIK: WIRTSCHAFT; KONZERNE; S. 66 Ausg. 6


LÄNGE: 1420 Wörter



HIGHLIGHT: Ein interner Vermerk bringt den ehemaligen VW-Aufsichtsrat Christian Wulff in Schwierigkeiten. Er hatte offenbar früh Hinweise auf die Übernahmepläne Porsches.


Der Vermerk eines Beamten ist oft nicht viel wert, jedenfalls dann, wenn er vier Jahre alt ist. Eine ganz spezielle Notiz allerdings, ein paar Zeilen lang nur, kann man möglicherweise in Milliarden Euro aufwiegen.

Der interne Vermerk stammt vom 12. Februar 2008. Er könnte jetzt als wichtiges Beweismittel für Prozesse dienen, in denen es um Schadensersatzforderungen in Milliardenhöhe geht. Er belastet Bundespräsident Christian Wulff, der in seiner Zeit als Ministerpräsident Niedersachsens und VW-Aufsichtsrat eine entscheidende Rolle in der Übernahmeschlacht zwischen Porsche und VW spielte.

Die Notiz bringt auch den VW-Konzern in eine schwierige Lage, denn von Wulff können die klagenden Banken, Versicherungen und Hedgefonds die geforderten Summen nicht eintreiben, sondern allenfalls vom Wolfsburger Autohersteller, dessen Kontrollgremium der Politiker angehörte.

Die Mitteilung hat Mathias Middelberg verfasst, einst Chef der Wirtschaftsabteilung in Wulffs hannoverscher Staatskanzlei, jetzt CDU-Bundestagsabgeordneter. "Mittelfristiges Ziel von Porsche ist der Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags gemäß Paragraf 291 Absatz 1 Aktiengesetz, in der Regel 75%, hier gegebenenfalls 80%", schrieb Middelberg seinem damaligen Ministerpräsidenten Wulff. 

Es ist ein Satz, der im Jahr 2008 geeignet war, viel Geld zu bewegen. Hätte Wulff diese Aussage im Februar 2008 veröffentlicht, dann hätten manche Kapitalanleger ihr Geld vermutlich anders investiert, dann wären ihnen Milliardenverluste erspart geblieben, die sie jetzt durch Klagen in den USA und Deutschland ersetzt bekommen wollen. Aber VW-Aufsichtsrat Wulff ging mit dieser Information nicht an die Öffentlichkeit.

Das Schweigen des Christian Wulff und der Vermerk seines Mitarbeiters Middelberg bieten den klagenden Anlegern neue Munition. Die Bedeutung der Notiz erschließt sich allerdings erst, wenn man kurz zurückblickt ins Jahr 2008.

Porsche war drei Jahre zuvor bei VW eingestiegen und hatte seine Anteile Stück für Stück erhöht. Doch Porsche-Boss Wendelin Wiedeking erklärte stets: Man strebe nicht danach, 75 Prozent der VW-Aktien zu erwerben, was den Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags ermöglichen würde. Ein solcher Schritt hätte Porsche die volle Kontrolle über VW verschafft und den Zugang zu den Barreserven der Wolfsburger von rund zehn Milliarden Euro.

Wulff traute dem Porsche-Boss nicht. Der Ministerpräsident vertrat das Land Niedersachsen, das gut 20 Prozent der VW-Stammaktien hielt, im Aufsichtsrat des Autokonzerns. Zusammen mit seinem Wirtschaftschef Middelberg kämpfte er an vielen Fronten, um den Einfluss des Landes auf VW zu wahren.

Der Jurist Middelberg war einer seiner wichtigsten Mitstreiter. Er kommt wie Wulff aus Osnabrück, die beiden kennen sich noch aus Zeiten, als Wulff Chef der Schüler Union war. Middelberg war ebenso misstrauisch gegenüber den Porsche-Managern wie sein Chef. "Die verarschen uns", sagte er oft.

Viele Anleger, vor allem große Fonds und Versicherungen, dagegen glaubten den Beteuerungen von Porsche, man strebe keinen 75-Prozent-Anteil an VW an. Abenteuerlich erschien die Vorstellung, dass "die kleinen Blechpatscher aus Zuffenhausen", wie Wiedeking die Sportwagenfirma ironisch nannte, den Weltkonzern VW schlucken könnten.

Der Aktienkurs von VW schien Anlegern deshalb sehr hoch. Viele verkauften im Jahr 2008 ihre Aktien. Oder sie spekulierten auf sinkende VW-Kurse. Sie schlossen sogenannte Leerverkäufe ab. Sie liehen sich VW-Aktien und verkauften sie. Später, bei niedrigeren Kursen, wollten sie die Aktien billig wieder erwerben und zurückgeben.

Als Porsche aber am 26. Oktober 2008 überraschend bekanntgab, das Unternehmen strebe doch einen Anteil von 75 Prozent bei VW an und habe bereits Aktien und Optionen für über 74 Prozent beisammen, explodierte der VW-Kurs. Die Aktie stieg zeitweise auf über 1000 Euro, der VW-Konzern war der wertvollste Konzern der Welt.

Für Anleger, die mit geliehenen Aktien gegen VW gewettet hatten, kam dies einem GAU gleich. Sie mussten VW-Aktien kaufen, ganz gleich zu welchem Preis, um sie zurückzugeben. Banken und Fonds verloren binnen weniger Tage mehrere Milliarden Euro.

Nun könnte man sagen, die Anleger hätten eben Pech gehabt und sich verspekuliert. Wer mitunter Milliarden gewinnt, kann auch mal Milliarden verlieren.

So einfach aber ist es nicht. Das Wertpapierhandelsgesetz will Anleger auch davor bewahren, ihr Geld falsch zu investieren, weil ein börsennotiertes Unternehmen wichtige Informationen verschwiegen hat.

Verfügt ein Unternehmen über eine "konkrete Information", die "geeignet ist, den Börsenpreis erheblich zu beeinflussen", muss es diese "unverzüglich veröffentlichen". Als sogenannte Insiderinformationengelten "auch solche, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass sie in Zukunft eintreten werden".

In seinem internen Vermerk schreibt Middelberg, eine Erhöhung des Aktienanteils am VW-Konzern auf 75 Prozent sei das "mittelfristige Ziel von Porsche". Middelberg warnte: Ein solcher Vertrag würde "Porsche den unmittelbaren Zugriff auf das untergeordnete Unternehmen VW einräumen, weil der Porsche-Vorstand dann direkt Weisungen an den VW-Vorstand geben könnte".

Schwerwiegende Konsequenzen drohten auch dem Land Niedersachsen, das im Wolfsburger Kontrollgremium zwei Plätze besetzt: "Der VW-Aufsichtsrat wäre de facto entmachtet."

Nach Ansicht des Kapitalmarktexperten Oliver Maaß hätte Wulff dem VW-Aufsichtsrat über seine Information berichten müssen. Dieser hätte dann den VW-Vorstand informieren sollen, der über die Herausgabe einer ad-hoc-Meldung hätte entscheiden müssen.

Auf die Frage des SPIEGEL, warum Wulff damals den VW-Aufsichtsrat nicht informiert habe, antwortet dessen Anwalt Christian von Lenthe: Wulff könne dazu keine Stellung nehmen, weil die Fragen einen unmittelbaren Bezug zu laufenden Klage- und Ermittlungsverfahren hätten.

Er weist aber darauf hin, dass Wulff gegen die Entmachtung des Landes Niedersachsen gekämpft hatte. Deshalb sei die Behauptung, er habe von einem vorzeitigen Aufstockungswillen von Porsche gewusst und nichts unternommen, abwegig.

Für die auf Schadensersatz klagenden Kapitalanleger ist Wulff nun dennoch eine zentrale Figur in ihrer Auseinandersetzung mit Porsche und VW. Anwalt Franz Braun, der 41 Banken, Versicherungen und Hedgefonds vertritt, sagt: "Wulff könnte das Zünglein an der Waage sein."

Der VW-Konzern und Porsche sagen, dass sie die Klagen für unbegründet halten, und nehmen darüber hinaus keine Stellung, weil es sich um laufende Verfahren handelt.

Die Konzerne sehen sich einer ganzen Flut von Schadensersatzklagen ausgesetzt. Vor einem New Yorker Gericht fordern US-Fonds mindestens eine Milliarde Dollar. Vor dem Landgericht Braunschweig sind Klagen gegen Porsche und VW in Höhe von gut zwei Milliarden Euro anhängig. Vor dem Landgericht Stuttgart fordern US-Investoren knapp zwei Milliarden Euro. Und die Erben von Adolf Merckle wollen von Porsche über 200 Millionen Euro erstattet haben, die der Pharmaunternehmer mit VW-Aktienoptionen verloren hatte.

Im Kern geht es stets darum, ob Porsche und VW die Anleger während der Übernahmeschlacht korrekt und rechtzeitig informiert haben.

Bislang gab es nur Hinweise darauf, dass Wulff frühzeitig informiert gewesen sein könnte. Aber sie waren interpretationsbedürftig. Der Vermerk vom 12. Februar 2008 dagegen ist eindeutig.

Middelberg hatte über diese und andere Notizen vor längerer Zeit ganz offen gesprochen, als er und Wulff noch stolz darauf waren, wie sie den Angriff von Porsche auf VW abgewehrt hatten. Er hatte sicher nicht geahnt, dass dieser Vermerk möglicherweise einmal eine wichtige Rolle für Schadenersatzklagen spielen könnte. Sonst hätte er geschwiegen.

Am vergangenen Freitag wollte er keine Stellungnahme dazu abgeben.

Realistisch einschätzen kann die juristische Gefechtslage derzeit wohl niemand. Viele Fragen sind offen. Beispielsweise, ob es dem VW-Konzern anzurechnen ist, dass sein Aufsichtsrat Wulff möglicherweise frühzeitig Hinweise auf die Porsche-Pläne hatte? Ob der Autokonzern dafür haftbar gemacht werden kann, dass er, weil Wulff ihn nicht informierte, keine Meldung herausgegeben hat.

Doch in Wolfsburg und Stuttgart ist die Nervosität hoch. Mehr als hundert Millionen Dollar hat Porsche klagenden Anlegern schon geboten, wenn sie ihre juristischen Angriffe einstellen. Die haben abgelehnt, weil sie sich höhere Entschädigungen versprechen. Ihre Neigung zum außergerichtlichen Vergleich dürfte nun noch geringer werden.


UPDATE: 6. Februar 2012


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


GRAFIK: Manager Wiedeking 2010: "Kleine Blechpatscher"
VW-Aufsichtsrat Wulff(*): Anleger fordern Milliarden Euro Schadensersatz
(*) Am VW-Stand auf der Hannover Messe 2009.


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Der Spiegel


6. Februar 2012


Ungebremst und ungeniert


AUTOR: Bartsch, Matthias; Brandt, Andrea; Fröhlingsdorf, Michael; Kaiser, Simone; Popp, Maximilian


RUBRIK: DEUTSCHLAND; FINANZEN; S. 36 Ausg. 6


LÄNGE: 2137 Wörter



HIGHLIGHT: Die Bundesländer haben sich verpflichtet, ab 2020 keine neuen Schulden zu machen. Doch schon jetzt zeichnet sich ab, dass viele dieses Versprechen brechen werden - weil die Landesregierungen noch nicht einmal sparen, wenn die Steuereinnahmen steigen.


Finanzminister gelten nicht als fröhliche Menschen. Die Schulden des Landes drücken, die Wünsche der Wähler nerven, da kann man schnell die gute Laune verlieren.

In diesen Wochen aber scheint alles anders zu sein. In München berichtete ein strahlender Landesminister seinen Kabinettskollegen, dass die Steuereinnahmen stark, ja sensationell gestiegen seien. Das Land habe 2,2 Milliarden Euro mehr in der Kasse als erwartet, jubelte Markus Söder (CSU) und erklärte den Freistaat zur "Stabilitätsoase in Deutschland".

Etwas bescheidener, aber nicht weniger erfreut trat in Dresden sein sächsischer Amtskollege auf, nachdem die Haushaltsabteilung seines Ministeriums einen vorläufigen Kassenabschluss vorgelegt hatte. Im Vergleich zum Vorjahr, berichtete Georg Unland (CDU), ergebe sich ein Steuerplus von mehr als einer halben Milliarde Euro.

Selbst in Nordrhein-Westfalen, wo das Landesverfassungsgericht die rot-grüne Regierung zum strikten Sparkurs verdonnert hat, konnte der Finanzminister plötzlich Positives vermelden. Im Vergleich zu 2010 seien die Einnahmen um drei Milliarden Euro gestiegen, verkündete Minister Norbert Walter-Borjans (SPD), "840 Millionen höher als erwartet". 

Die Finanzminister der Bundesländer dürfen sich fühlen wie Spieler, die ihr Vermögen fast verzockt haben und plötzlich eine Glückssträhne erleben. Die zusätzlichen Millionen und Milliarden, die nun in den deutschen Landeshauptstädten bejubelt werden, sind freilich ebenso verführerisch wie trügerisch. Die Summen ändern nichts daran, dass die Länder dringend sparen müssten. Und sie verstellen den Blick darauf, dass viele dies nicht konsequent tun - und damit schlimmstenfalls den Ruin riskieren.

Dabei haben Bundestag und Bundesrat vor zweieinhalb Jahren eine "Schuldenbremse" im Grundgesetz verankert: Die Länder sollen spätestens ab 2020 nicht mehr auf Pump leben. Sie dürfen nur noch so viel Geld ausgeben, wie sie einnehmen. Schon jetzt allerdings, knapp ein Jahrzehnt bevor die Regelung greifen soll, sehen Experten das Ziel in Gefahr, weil viele Länder weiter Vollgas geben, statt auf die Bremse zu steigen.

Berlins parteiloser Finanzsenator Ulrich Nußbaum warnt bereits davor, dass "nicht alle Länder überleben werden" (siehe Interview Seite 39). Doch deren Regierungen verhalten sich wie die Griechen vor einigen Jahren, als die Lage des Landes schlecht war, aber noch nicht aussichtslos erschien. Alle ahnten, dass es so nicht ewig weitergehen konnte, aber niemand hatte die Macht und den Mumm gegenzusteuern.

Stattdessen behaupten auch deutsche Landespolitiker, dass alles bestens sei oder zumindest besser werde. Ihr Land befinde sich "auf gutem Weg", einen ausgeglichenen Haushalt bis zum Jahr 2020 zu erreichen, behauptet die Saarländerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), Ministerpräsidentin des Flächenlandes mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung. Klaus Wowereit (SPD), Regierender Bürgermeister im ebenfalls hochverschuldeten Berlin, verspricht sogar "spätestens 2016" einen Etat ohne Neuverschuldung.

Für viele Experten, etwa in den Landesrechnungshöfen, klingen solche Aussagen wie Märchen. Sie fragen sich, wann die Regierungen endlich mit dem Sparen anfangen. Die Zeit ist günstig, weil die Einnahmen aus Lohn- und Einkommensteuern so hoch sind wie fast noch nie. Wenn die Regierungen nicht jetzt sparen und Schulden abbauen - wann dann?

"Die strukturellen Einsparungen fallen viel zu niedrig aus oder finden erst gar nicht statt", kritisiert der Wirtschaftsweise Christoph Schmidt vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI). Die Schuldenlast der Länder nehme insgesamt "weiterhin kräftig zu". So plant die nordrhein-westfälische Regierung, 2012 die Ausgaben im Vergleich zum Vorjahr noch zu steigern. Weit über drei Milliarden Euro müssen dabei durch neue Schulden finanziert werden. "Einen Konsolidierungskurs hat die Landesregierung in Wahrheit noch gar nicht eingeschlagen", sagt Rainer Kambeck, Experte für Länderfinanzen beim RWI.

Noch schlechter ist die Lage in Bremen. Der Stadtstaat gibt rund vier Milliarden Euro im Jahr aus, nimmt aber nur drei Milliarden ein. Die Schulden werden nach den Berechnungen des Senats im kommenden Jahr auf mehr als 20 Milliarden Euro wachsen. Und niemand weiß, wie diese Summe jemals getilgt werden soll.

Auch in ostdeutschen Ländern, die derzeit üppige Zuschüsse aus dem Solidarpakt kassieren und teilweise sogar Haushaltsüberschüsse aufweisen, wird die Lage kompliziert. Weil der Solidarpakt auslaufe und die Einwohnerzahl sinke, verliere Mecklenburg-Vorpommern bis 2020 rund eine Milliarde Euro, sagt Finanzministerin Heike Polzin. Die SPD-Politikerin sagt: "Wir stehen am Anfang eines schwierigen Jahrzehnts."

Selbst in Bayern sind die Verhältnisse nicht so geordnet, wie sie auf den ersten Blick erscheinen: In Söders "Stabilitätsoase" türmt sich ein 32 Milliarden Euro hoher Schuldenberg. Trotz des unerwarteten Milliardensegens sollen die Altschulden laut Haushaltsplan im Laufe des Jahres nur um vergleichsweise mickrige 250 Millionen Euro schrumpfen. Regierungschef Horst Seehofer (CSU) hat zwar angekündigt, künftig größere Summen für den Schuldenabbau bereitzustellen. Doch dieses Geld dürfte dann anderen Ländern fehlen, denn finanzieren will Seehofer den Abbau unter anderem über eine Reform des Länderfinanzausgleichs.

Das Grundproblem ist überall das gleiche: Anders als der Bund können die Länder ihre Einnahmen kaum beeinflussen. "Autonom entscheiden wir im Grunde nur über die Grunderwerbsteuer", sagt der Vizevorsitzende der Finanzministerkonferenz, der Hesse Thomas Schäfer (CDU). Die meisten Länder haben diese Steuer gerade erst erhöht.

Auch bei den Ausgaben ist der Spielraum klein. Die Länder sind für Bereiche mit viel Personal zuständig: Schulen, Justiz, Universitäten, Polizei. Im Flächenland Hessen wird jeder zweite Euro aus den Steuereinnahmen für Mitarbeiter ausgegeben, beim Bund beträgt der Anteil nur rund zwölf Prozent. Da Lehrer, Professoren und Polizisten in der Regel unkündbare Beamte sind, lassen sie sich nicht einfach von der Gehaltsliste streichen, und sie kosten auch im Ruhestand noch viel Geld.

Weil die westdeutschen Länderverwaltungen über Jahrzehnte aufgebläht wurden, werden die Kosten für die Versorgung der Pensionäre noch viele Jahre lang massiv steigen. Selbst bei einem sofortigen Einstellungsstopp würden die Versorgungsausgaben seines Landes noch bis 2030 wachsen, sagt Hessens Finanzminister Schäfer.

Ohnehin seien Einstellungsstopps politisch kaum durchzusetzen, klagen Finanzminister gern untereinander, wennsie sich alle paar Wochen treffen. In fast allen Landtagen versuchen sich Regierungen und Opposition mit Ankündigungen zu übertrumpfen, wer den Schulen die meisten Lehrer spendiert oder den Städten und Dörfern die meisten Polizisten.

Wie die Länder unter diesen Umständen einen ausgeglichenen Haushalt erreichen wollen, ist vielen Experten ein Rätsel. "Etliche Länder scheinen die letztlich nötigen Konsolidierungsmaßnahmen aufzuschieben", stellte die Bundesbank bereits in ihrem Monatsbericht vom vergangenen Oktober fest.

RWI-Chef Schmidt sieht diesen Befund durch eine Analyse der Haushaltsplanungen von 2011 bestätigt. Danach weisen "alle Länder bis auf Sachsen einen strukturell unterfinanzierten Haushalt auf". Das Geschenk der stark wachsenden Steuereinnahmen habe zwar für schönere Bilanzen mit geringeren Defiziten gesorgt, aber an der bedenklichen Ausgabenstruktur wenig verändert. "In Wirklichkeit verschieben die meisten Länder das Sparen in die Zukunft", sagt Schmidt.

Das soll seit 2010 ein "Stabilitätsrat" verhindern. Er achtet darauf, dass alle Länder einen "Pfad" zum schuldenfreien Wirtschaften beschreiten. Auf vier besonders hoch verschuldeten Ländern klebt das Etikett "Haushaltsnotlage". Berlin, Bremen, Saarland, Schleswig-Holstein sowie Sachsen-Anhalt erhalten zudem bis 2019 jedes Jahr 800 Millionen Euro als Übergangshilfen. Dafür müssen sie darlegen, dass sie ihre Neuverschuldung jedes Jahr ein bisschen mehr abbauen.

Auf dem Papier gelingt das einigermaßen. Alle Finanzminister, auch die der Notlagen-Länder, können auf ihrem Computer bunte Grafiken mit stetig abfallenden Linien zeigen. Diese stehen für "Neuverschuldung" und sollen, so ist es auf dem Bildschirm zu sehen, spätestens 2020 mehr oder weniger sanft auf die Null-Linie aufsetzen. Aber wie realistisch ist das? Die Fachleute der Bundesbank haben in den Finanzplanungen der Länder häufig den Verweis auf "globale Minderausgaben" gefunden. Unter Haushaltsexperten gilt die Floskel als offenes Bekenntnis der Ratlosigkeit: Man weiß zwar, dass man seine Ausgaben stark kürzen müsste, hat aber noch nicht die geringste Idee, wo solche Einsparungen möglich sind.

Sollte eines der Notlagen-Länder sein Sparziel nicht erreichen, kann der Stabilitätsrat die Übergangshilfen streichen. Andere Sanktionen sind nicht vorgesehen. Vermutlich wird der Rat ohnehin nicht allzu streng mit den Defizitsündern umgehen. Die Länderfinanzminister stellen 16 von 18 Mitgliedern und kontrollieren sich damit praktisch selbst.

Was passieren wird, wenn einige Länder ab 2020 trotz allem neue Schulden machen, ist unklar. Möglicherweise nicht viel. Auch vor der Grundgesetzänderung gab es schließlich schon Verfassungsregeln, die die Verschuldung begrenzen sollten. Bund und Länder durften sich nur so viel Geld leihen, wie sie nachweislich für Investitionen ausgaben.

Selbst diese vergleichsweise niedrige Hürde haben zahlreiche Länder gerissen, Bremen beispielsweise in jedem einzelnen Jahr der vergangenen zwei Jahrzehnte. Es gab ja ein Schlupfloch: Die Regierung musste nur eine "Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" konstatieren, dann war eine höhere Neuverschuldung erlaubt, zur Stützung der Konjunktur.

Nur wenn die angebliche "Störung" allzu offensichtlich als Scheinargument zu entlarven war, zog hin und wieder eine Landtagsopposition dagegen vor Gericht. Mitunter wurde der Trick dann nachträglich vom Verfassungsgericht des Landes gerügt. Viel mehr passierte meistens nicht.

Die neue Verfassungsregel, die "Schuldenbremse" von 2009, ist zwar wesentlich strenger formuliert. Aber auch sie bietet Ausnahmen und Schlupflöcher. So sind Kreditaufnahmen erlaubt, wenn eine schwache Konjunktur die Steuereinnahmen einbrechen lässt. Die Finanzminister müssen dann nur einen Tilgungsplan vorlegen. Das Gleiche gilt bei Naturkatastrophen oder "außergewöhnlichen Notsituationen". Solche Formulierungen schaffen Raum für Interpretationen. Rheinland-Pfalz hat in seiner Landesverfassung schon eine sehr weitgehende Auslegung verankert: Das Land will sich ab 2020 neue Kredite genehmigen, wenn etwa der Bund die Steuern senkt oder zusätzliche Aufgaben an die Länder oder Kommunen abschiebt.

Zudem dürfen sich die Länder individuelle Regeln dafür basteln, wie sie ihre Einnahmeausfälle aus Konjunkturkrisen berechnen. Laut Grundgesetz dürfen solche Ausfälle per Kredit ausgeglichen werden. Doch die Berechnungsverfahren sind äußerst kompliziert, schon geringfügige Änderungen der Parameter können große Spielräume für neue Schulden schaffen.

Klaus Behnke, der Präsident des rheinland-pfälzischen Landesrechnungshofs, fürchtet, dass "es nur sehr wenige Abgeordnete in den Parlamenten gibt, die das dann noch nachvollziehen und kontrollieren können". Kreative Finanzminister, glaubt Behnke, dürften auch künftig Wege finden, Haushaltslöcher auf Pump zu stopfen.

Notfalls werden sie es vermutlich mit bewährten Tricks versuchen, etwa die Schulden in Neben- und Schattenhaushalte, Zweckgesellschaften oder landeseigene Unternehmen auslagern. Auch PPP-Projekte - Partnerschaften mit privaten Unternehmen, etwa bei Bauprojekten - sind bei Rechnungsprüfern berüchtigt. Häufig werden landeseigene Immobilien an Investoren verkauft und dann über langfristige Verträge gemietet. Auch dies, warnen Rechnungshofpräsidenten, sei oft nichts anderes als eine verdeckte Kreditaufnahme.

So treiben viele Landespolitiker nicht den Schuldenabbau voran, sondern machen ungebremst und ungeniert lieber neue Versprechen, nicht nur im Wahlkampf. Die bayerische Regierung liebäugelt mit einer pompösen neuen Konzerthalle in der Landeshauptstadt - als wäre die Elbphilharmonie, das Millionengrab der Hamburger, nicht Warnung genug.

Die Hessen stampfen bei Kassel einen mehr als 250 Millionen Euro teuren Provinzflughafen aus dem Boden. Der wird nach Meinung vieler Experten dauerhaft auf Subventionen angewiesen sein, noch hat sich jedenfalls keine Fluggesellschaft gefunden, die dort landen will.

Im Saarland will die Noch-Regierungschefin Kramp-Karrenbauer dafür sorgen, dass der Fußball-Drittligist 1. FC Saarbrücken für geschätzte 28 Millionen Euro ein neues Stadion bekommt. Wenn man die Schuldenbremse "radikal" auslege, räumt die Politikerin ein, dann dürfe man bis 2020 "überhaupt nichts mehr bauen".

Aber das, sagt Kramp-Karrenbauer, gehe natürlich nicht.


UPDATE: 6. Februar 2012


SPRACHE: GERMAN; DEUTSCH


GRAFIK: Finanzministertreffen in Hamburg 2011: Wie Spieler, die ihr Vermögen fast verzockt haben
Millionengrab Hamburger Elbphilharmonie: Bewährte Tricks


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2. Februar 2012 Donnerstag 7:41 AM GMT+1 


Merkel wirbt um Vertrauen in Europa


RUBRIK: BESUCH IN PEKING


LÄNGE: 491 Wörter



HIGHLIGHT: Mit Chinas Devisen gegen die Schuldenkrise: Die Kanzlerin hat in Peking um Investitionen in kriselnde Euro-Länder geworben und die Chinesen aufgefordert, mehr Verantwortung zu übernehmen. Doch die geben sich zurückhaltend.; http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,812836,00.html


Peking - Es ging um Menschenrechte, die Krisen in Iran und Syrien, aber vor allem um den Euro: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in Peking angesichts der Schuldenkrise um Vertrauen in die Europäische Union geworben. Zum Auftakt eines dreitägigen Besuches sagte die Kanzlerin am Donnerstag in einer Rede vor der Akademie der Sozialwissenschaften, mit dem gerade beschlossenen Sparpakt gebe es eine bessere Haushaltsdisziplin in den einzelnen Staaten. 

Auch werde Europa seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Merkel forderte China auf, mit seiner gewachsenen wirtschaftlichen Stärke auch mehr internationale Verantwortung zu übernehmen. "Europa wächst in der Krise zusammen", sagte sie.

Merkel, die von einer Wirtschaftsdelegation begleitet wird, wirbt um chinesische Investitionen für den Euro-Rettungsschirm und auch in Deutschland. Auf dem Programm stand am ersten Besuchstag ein Treffen mit Regierungschef Wen Jiabao sowie ein Mittagessen mit Vertretern der Finanzwirtschaft.

Chinesische Experten dämpften allerdings Erwartungen, dass China in großem Stil europäische Staatsanleihen kaufen könnte. Der Rest der Euro-Zone müsse erst zu Reformen des gegenwärtigen Finanzsystems bereit sein, zitierte die Zeitung "Global Times" den Forscher Shen Jiru vom Institut für Weltwirtschaft und Politik in der Akademie der Sozialwissenschaften. Auch müssten neue Wege für wirtschaftliches Wachstum in Europa gefunden werden.

"Die Europäische Union hat eine einheitliche Währung, aber kein einheitliches Finanzsystem, das sicherstellt, dass sich auch jedes Land an das Versprechen hält, seine Schulden zu verringern", sagte Shen Jiru. "Mehr Geld hineinzupumpen, wird die Probleme nicht lösen." Wenn die EU die Schlupflöcher nicht selbst stopfen könne, könne auch China nicht einspringen und einfach Geldmittel zur Verfügung stellen, wurde der Experte zitiert.

China soll auf Iran einwirken

Merkel sprach auch die Menschenrechtsproblematik in China an. Auch appellierte sie an die Regierung, gegenüber der Gewalt in Syrien und im Atomstreit mit Iran tätig zu werden. Sie wisse, dass China das Öl-Importembargo der EU gegen den Iran nicht für den richtigen Weg halte. "Ich hoffe aber, dass China seinen Einfluss geltend macht, dass es keine Atommacht Iran gibt", sagte Merkel. "Einig sind wir darin, dass wir kein Nuklearprogramm des Iran wollen", erklärte die Kanzlerin.

Gegensätze könnten zwar nicht sofort überwunden werden, aber sie setze im Gespräch mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao darauf, die Einschätzung Europas in Sachen Iran deutlich machen zu können. Die Chinesen lehnen Sanktionen gegen den Iran ab.

Am Freitag wird die Kanzlerin auch von Staats- und Parteichef Hu Jintao empfangen, bevor sie nach Guangzhou (Kanton) in Südchina weiterreist. Als "besondere Geste", wie Diplomaten hervorhoben, wird Wen Jiabao die Kanzlerin auf der zweiten Station ihrer Reise am Freitag nach Guangzhou (Kanton) in Südchina begleiten.

fab/dpa/dapd


UPDATE: 2. Februar 2012


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1. Februar 2012 Mittwoch 6:47 PM GMT+1 


Warum Wulff seine Affäre nicht los wird


AUTOR: Veit Medick ; Severin Weiland


RUBRIK: BUNDESPRÄSIDENT IN DER KRITIK


LÄNGE: 1056 Wörter



HIGHLIGHT: Hausdurchsuchungen, Heimlichtuereien - und fast täglich neue Vorwürfe: Seit Wochen hofft Christian Wulff auf Normalität, doch die Kreditaffäre wird er partout nicht los. Die Unions-Wahlkämpfer in den Ländern werden zunehmend nervös.; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,812696,00.html


Berlin - Nein, eine exklusive Finca darf es natürlich nicht mehr sein, Christian Wulff urlaubt wieder ganz bodenständig. Der Bundespräsident hat sich für ein paar Tage in einer schmucklosen Pension im Thüringer Wald einquartiert. Fröhlich zeigt er sich beim Winterspaziergang, die Skier unterm Arm, die Wollmütze auf dem Kopf. Otto Normalwulff macht jetzt mal Pause. Alles überstanden.

Es ist eine etwas eigentümliche Inszenierung des ersten Mannes im Staat. Natürlich darf ein Bundespräsident Ferien machen, aber es besteht da eben ein gewisses Missverhältnis zwischen seiner demonstrativen Gelassenheit und der Masse an Vorwürfen, denen er inzwischen ausgesetzt ist. 

So sehr Wulff sich dieser Tage auch müht, die Affäre abzuschütteln, so wenig will ihm dies gelingen. Immer wenn er glaubt, die Debatte schlafe langsam ein, taucht wieder ein neues Problem auf. Es gibt einfach zu viele Ungereimtheiten aus seiner Vergangenheit. Mal wird das Büro seines Ex-Sprechers durchsucht, mal seine Verbindung zum Eventmanager Manfred Schmidt beleuchtet, dann wieder geht es um seine Kanzlei oder die Frage, wie sauber er als Ministerpräsident Privates und Dienstliches trennte. Man mag diese Fragen inzwischen kleinlich finden, aber für einen Bundespräsidenten ist es nicht unwichtig, ob er die ganze Wahrheit sagt oder nur die halbe. So ewig sich die Affäre auch schon hinziehen mag.

Volle Transparenz hat er - anders als versprochen - jedenfalls nicht hergestellt. Sein Umgang mit vielen Vorwürfen nährt den Verdacht der Trickserei, immer wieder verwickelt Wulff sich in Widersprüche, viele Fragen sind offen.

Etwa, was seine Tätigkeit als Anwalt für die Kanzlei Funk, Tenfelde und Partner angeht. Der Bundespräsident erklärt, er habe seine Anstellungsverhältnis 1994 mit seiner Wahl in den Landtag von Hannover beendet, sein Anwalt erklärte zudem, seine Zulassung ruhe seit 2004. Dagegen berichtet die "Bild"-Zeitung, die Kanzlei habe versichert, Wulff habe bis vor kurzem eine Vereinbarung über seine Mitarbeit gehabt. Diese sei zum Juli 2011 von ihm gekündigt worden, auch sein Name am Türschild sei erst daraufhin entfernt worden. Hinzu kommt: Laut tagesschau.de soll Wulff-Freund Egon Geerkens bis 2007 Vermieter der Kanzlei-Räumlichkeiten gewesen sein. Doch von einer "Geschäftsbeziehung" zu Geerkens, die er im Jahr 2010 vor dem niedersächsischen Landtag abstritt, will Wulff noch immer nichts wissen.

Wie früh wusste Wulff von Glaesekers Problemen?

Heikel für Wulff ist auch seine Verbindung zu Olaf Glaeseker. Der Ex-Sprecher gehörte zu den engsten Vertrauten des Bundespräsidenten. Gegen den früheren Journalisten wird seit einigen Wochen wegen des Anfangsverdachts der Bestechung ermittelt - so soll er als Staatssekretär in der Staatskanzlei Hannover für die Einwerbung privater Sponsoren für den "Nord-Süd-Dialog" von Eventmanager Schmidt gesorgt haben. Auf den Veranstaltungen trat Wulff auf. Auch soll Glaeseker bei Schmidt, gegen den ebenfalls die Staatsanwaltschaft Hannover ermittelt, kostenlos Urlaub gemacht haben - ob als Gegenleistung für die Mithilfe beim "Nord-Süd-Dialog", das ist Gegenstand der Prüfungen.

Glaeseker soll schon früh gewusst haben, dass seiner früheren Tätigkeit nachgegangen wird. Das wirft Fragen auf: Falls ihm dies früh bekannt war, was unternahm er, um die Sache aufzuklären? Nach einem Bericht des "Stern" soll das Bundespräsidialamt mit Vorwürfen gegen Glaeseker bereits Ende August 2010 schriftlich auf Anfrage der "Süddeutschen Zeitung" konfrontiert worden sein. Damals habe ein Redakteur des Blattes angefragt, ob es zutreffe, dass Eventmanager Schmidt Glaeseker wiederholt kostenlose Urlaubsaufenthalte ermöglicht habe. Glaeseker habe damals solche Besuche zwar bestätigt, sie in einer internen Sachverhaltsdarstellung aber als rein privat dargestellt, so der "Stern". Das Bundespräsidialamt wies den Bericht am Mittwoch zurück. Eine solche Sachverhaltsdarstellung Glaesekers liege nicht vor.

Die noch immer unklaren Konditionen seines Bankdarlehens halten auch Wulffs politische Freunde für den mit Abstand problematischsten und gefährlichsten Punkt. Konkret geht es um jenen Kredit über 520.000 Euro, den die BW-Bank Wulff im März 2010 gewährte - und zwar mit "rollierenden", also variablen Zinsen. Nach Auskunft von Wulffs Anwalts lag der Zins, der alle drei Monate neu festgelegt wurde, zwischen 0,9 und 2,1 Prozent. Der Satz habe sich am sogenannten Euribor orientiert, heißt es.

Niedersächsische Landesregierung distanziert sich

Der Euribor ist jener Zins, zu dem sich europäische Banken gegenseitig über einen bestimmten Zeitraum Geld leihen, dabei gibt es unterschiedliche Euribor-Sätze, je nach Frist. Die BW-Bank sagt bis heute nicht, welcher Satz für Wulff galt. Nur so aber wäre erkennbar, ob Wulff eine Vorzugsbehandlung durch die Bank erhielt oder nicht. Der Drei-Monats-Euribor lag am 1. März 2010 bei 0,655 Prozent, Anfang 2011 bei 1,001 Prozent und Anfang 2012 bei 1,343 Prozent. Somit liegt der Verdacht nahe, dass der Aufschlag gegenüber Wulffs Kredit - zwischen 0,9 und 2,1 - nicht besonders hoch gewesen sein kann, folglich die Bank also an dem Kredit kaum etwas verdient haben dürfte. Die Bank erklärte nach einer Überprüfung unlängst, dass bei der Vergabe keinerlei Regeln verletzt worden seien. Doch es bleibt die Frage, warum Wulff solch günstige Konditionen erhielt.

Längst drohen die vielen Ungereimtheiten auch die Landtagswahlkämpfe zu belasten. Besonders bei den Christdemokraten in Niedersachsen fürchtet man, dass die Ewig-Affäre des Bundespräsidenten die eigenen Chancen schmälern könnte. Auffallend ist jedenfalls, wie deutlich sich die Landesregierung von Ministerpräsident David McAllister inzwischen vom einstigen Landesvater distanziert. In bewusster Abgrenzung zum Bundespräsidenten sagte McAllister kürzlich, er urlaube lieber an der Nordsee als auf Ibiza. Sein Finanzminister sagt, er fühle sich von Wulff-Freund Glaeseker "beschissen".

Und auch die Opposition verschärft dieser Tage den Ton. Weil er sich trotz der Vorwürfe weiter an sein Amt klammere, verschiebe Wulff die Maßstäbe für einen Rücktritt, meint man in der SPD. Heutzutage müsse man als Politiker wohl nur dann noch zurücktreten, "wenn das SEK ins Büro marschiert und direkt jemanden festnimmt", sagt Parteichef Sigmar Gabriel.

Es soll ein Witz sein. Aber so weit von der Realität ist es nicht entfernt.


UPDATE: 2. Februar 2012


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